Montag, 23. Dezember 2013

Achtens - ein Hamelner Junge in Schottland


 Ein Hamelner Junge im Kilt


Mittwoch, 26. August 2009
Erweitert am Dienstag, 17. Dezember 2013

           … vielleicht war es ein Rock?




Bild 1 
Schottischer Junge im Kilt, 
von R. R. McIan, etwa 1845. Clan Grant



Erinnerungen und Fiktionen (!):  Schotten in Hameln —
  und dann ein Hamelner Junge in Schottland —
  meine Träumereien seit ich 10 war,
  endlich hingeschrieben und hingezeichnet.

     Kilt oder Rock, 1946


eine Liste aller meine Blogs hier:

(von Aryaman)

Keine Bomben fielen mehr und zerstörten Häuser und Bahnanlagen, keine Bomberpulks flogen mehr über meine Stadt Hameln in Richtung auf eine Großstadt, keine Luftkämpfe zwischen feindlichen und deutschen Jagdflugzeugen mit Leuchtspurmunition waren mehr zu sehen, nachts war die Wolkendecke am Himmel nicht mehr rot vom brennenden Hannover oder Bielefeld, keine abgeschossenen Flugzeuge oder zerstörerische Bomben fielen mehr vom Himmel, es wurden keine ungenutzten Bomben mehr im Land verstreut — Notabwürfe, und die Bombentrichter auf den Äckern waren noch Jahrzehnte lang zu sehen, und wir Kinder suchten die scharfkantigen Bombensplitter in ihnen —, die feindlichen Flugzeuge verteilten keine leeren Benzinkanister oder silberne Staniolstreifen mehr über das Land, und keine toten Bomberpiloten wurden mehr aufgesammelt.

Dafür waren fremde Soldaten in der Stadt und große Mengen von Flüchtlingen aus Ostpreussen und Oberschlesien, und heimgekehrte und besiegte und verwundete deutsche Soldaten in Lumpen . . . alles in Lumpen und mit kleinstem Gepäck, Reste einer geschlagenen Armee in Lumpen, mit Armkrücken humpelten manche über den Not-Steg neben der gesprengten Weserbrücke, Hühnerleiter runter, Hühnerleiter rauf, wieder runter und rauf an die andere Seite, die rennenden Kinder anfluchend „ihr reißt einem ja noch die Krücken unter dem Arsch weg“ . . . , was uns amüsierte und erschreckte.

Und die Brücke über die Weser, erst vor 20 Jahren erbaut und sehr modern im Stil, die ja noch in den letzten Kriegstagen von unseren Leuten gesprengt worden war, wurde bald durch eine seitwärts gebogene hölzerne Notbrücke ersetzt, über die zuerst nur die Wagen der Besatzer fahren durften. Auf dem Werder rauchten erst noch die Trümmer der riesigen Kampfmeierschen „Wesermühle“ — und die Stadt war verstaubt und verdreckt und voller Leute, die nicht zu uns gehörten. Auch wurden Kriegsverbrecher im Zuchthaus gehenkt, was die Hamelner sehr erregte und verletzte, doch nun lag die Macht ja bei anderen.

Doch danach wurde das Leben für mich schön!

Bild 2
So sah der westliche Arm der Weserbrücke im Sommer 1945 aus, gesprengt, zusammengebrochen! Der zweite Not-Steg ist links zu sehen, der erste war vorher rechts. Hinten links die Ruine der Mühle. In der Mitte hinten das Münster. Gezeichnet nach einem Foto von 
Dr. Karl R. Berger, in einer Hamelner Zeitung vom 5. April 1975.



Mein Vater war noch in Gefangenschaft — wie wir erst später hörten, war er im Allgäu bei den Amerikanern.

Auch bei uns waren die Amerikaner mit ihren Jeeps, die sie anstatt sie zu waschen mit einer neuen Schicht Farbe besprühten, jedenfalls war das unser Eindruck. Die Amis, wie sie genannt wurden, waren grau-grün in ihren Farben, ähnlich wie unsere „Landser“, doch ganz anders im Uniformschnitt und in allem, was das Soldatische ausmachte, ja sie rochen auch ganz anders. Und alles, was sie hatten, auch die Unterwäsche und die Taschentücher und die Feuerzeuge (auch die Zigaretten und das Schreibpapier?) war in grüner Tarnfarbe.

So war der Jargon wie wir Kinder uns damals ausdrückten, um über das Geschehen zu sprechen.

Dann marschierten ganz andere Leute durch die Osterstraße in der Stadt: mit eigenartigem, näselnden Flöten-Spiel ein Regiment bunter Soldaten in roten Röcken, es waren Schotten mit Dudelsäcken und gekleidet im Rock, das ist die Regiments-Uniform, ein Männer-Rock, wie ich hörte. Ich war da 12 bis 13 und begeistert von dieser Kleidung. Das herbe Soldatische war etwas gemildert, diese Soldaten sehen einfach frischer aus als die Amis oder vorher die deutschen „Landser“, zu denen auch mein Vater gehörte.

Ja, die Schotten und ihre Röcke. Schon seit ein paar Jahren, mit 9 oder 10 hätte ich lieber einen Rock anstatt Hosen getragen, doch damals hätte ein Junge das nicht laut sagen dürfen — ein Junge im Rock! Und nun aber diese Leute, und ich konnte mich nicht satt sehen an den Schotten, wie bunt dieser Rock war, und wie er beim Gehen umherschwang. Meine Eltern hatten ein paar illustrierte Bücher mit kulturellen Nachrichten aus aller Welt. Und da hatte ich schon bevor ich diese Schotten leiblich sah, alte Bilder von schottischen Männern im Schottenrock gesehen. Und besonders berührte mich das Bild eines schottischen Jungen in der Zeitschrift ATLANTIS (aus Zürich, März 1938, Seite 138 links unten ), der einen „Kilt“, wie sie ihren Rock nannten, trug — es war wie ein Märchen aus einer anderen Zeit (seht das Bild ganz oben). Es war also erlaubt: Jungen und Männer dürfen einen Rock tragen! Eine alte Sehnsucht in meiner Seele nimmt Formen an.

Und dann diese Bemerkungen der Frauen: was tragen die wohl unter ihrem Rock, etwa garnichts? Als ob irgendjemand fragen würde, was sie, die Frauen unter ihren Röcken tragen. Doch selbst mich reizte diese Frage, und ich bekam schnell eine klare Antwort, wenigstens für einen der Soldaten: zwei von ihnen sitzen auf der Rückwand eines vorbeifahrenden Militär-Lasters, und ihre Kilts hängen hinten über die Bordwand des Lasters herunter, in tausend Falten gefältet. Einer der beiden hebt seinen Kilt und kratzt sich an der Pobacke, und da sehe ich es: er ist nackt unter seinem Kilt, nicht mal einen Unterrock! Irgendwie hatte ich das Gefühl, das ist schon richtig so, wozu sonst tragen die einen Rock? Und trotz aufkommender Scham war DAS der Sinn des Kilts, auch für mich.


 Bild 3 
Soldaten auf einem Militär-Laster, 1946 in Hameln gesehen.

Damit beginnt mein Märchen, wie ich es mir als Junge gewünscht hatte, vielleicht ein Traum? — doch leider traf es nie zu. Nun das Märchen:

In jenen Monaten 1946 kommt an einem Tag ein Mann zu uns, ebenfalls in einen bunten Kilt gekleidet, zu uns in unser Haus und will meine Eltern sprechen, er ist einer der Soldaten, ein Offizier. So, so, Ihr Mann ist noch in Gefangenschaft, aber meine Mutter spricht mit ihm. Sie spricht ja englisch, und so geht es, und obwohl ich schon drei Jahre englisch in der Schule hatte, kann ich nur wenig verstehen. Meine Mutter ist sehr verlegen und erklärt mir, daß Mister Agnew (gespochen Äg-Nju) behauptet, eigentlich sei ich SEIN Sohn, und nur durch ein Versehen sei ich als ganz kleines Kind in diese Familie gekommen als seine Frau in Hamburg mit ihrem Neugeborenen im Krankenhaus lag. Und es hätte eine Verwechslung gegeben. Meine Mutter muß zugeben, daß das möglich ist.

Ach nein, so wird das Märchen zu schwierig, obwohl es ein Körnchen meiner Wünsche in sich hat. Ich muß es anders beginnen, nicht so dramatisch, denn ich wäre nicht gerne in eine andere Familie umgezogen, hätte nicht gerne meine Familie verlassen, nicht in dem kindlichen Alter, bestimmt nicht. Also so:

Beim Spielen auf der Straße lerne ich ein paar Kinder kennen, die zu einer schottischen Familie gehören, die in einem der deutschen Häuser wohnen, das das Militär beschlagnahmt hatte, wie man sagte, für Offiziers-Familien. Ja, und diese Jungen tragen einen Kilt. Natürlich habe ich diese Begegnung herbeigefördert wegen meines Sehnens. Ich darf ab und zu diese Familie Agnew besuchen, und es entsteht eine Offenheit und Freundschaft mit mir, auch zu meiner Mutter, die über den Schatten ihres Nationalstolzes springen kann, denn „die Schotten sind ja nicht unsere richtigen Feinde, sie sind ja auch von den Engländern erobert und besetzt worden,“ erklärt sie. Und, worum es mir ja geht: die zwei Jungen dieser Familie tragen fast immer ihren Kilt. Sehr verlegen bin ich, wie ich einmal frage, ob ich auch mal einen Kilt tragen darf, und ihre Mutter holt mir einen Kilt von ihren Söhnen und hilft mir, ihn anzuziehen, was ganz anders ist als die Röcke, die ich an meinen Schwestern sehe aber nie selbst versucht habe.

Die Freundschaft zwischen unseren Familien vertieft sich, und auch mein Vater, als er aus der Gefangenschaft zurückkehrt, hat nichts dagegen: „Feinde? das war einmal, nun ist der Krieg vorbei.“ Und dann kommt es: ich werde eingeladen, für die Sommerferien mit der Familie in ihre schottischen Berge zu reisen, mit einem Militär-Schiff von Cuxhaven nach Dundee.

Sie leihen mir einen Kilt, doch ich traue mich nicht, ihn öffentlich in meiner Stadt zu tragen. Die Angst ist zu groß, als Mädchen verspottet zu werden — aber wieso ist da diese Angst? einfach, weil sie vorher schon geschürt wurde: ein Junge darf nie wie ein Mädchen aussehen, obwohl Mädchen schon mal wie Jungen aussehen dürfen, da ist keine Angst. Ich bekomme nun also einen Kilt geliehen.

An junge Leute wird ein Kilt lieber verliehen als fest vergeben, weil ein Junge so schnell hinauswächst und dann kann der Kilt weiter gegeben werden, Kilte sind sehr teuer und es wäre schade, wenn sie im Schrank herumliegen würden.

Viel packen wir mir nicht in den kleinen Koffer, der Kilt ist das dickste Kleidungsstück, ja und ein Pullover. Und ein Tagebuch (aus dem ich diese Geschichte schreibe) und weiße Unterwäsche und Strümpfe, Nähzeug und sowas. Und natürlich ein kleines Wörterbuch englisch-deutsch von einer der Englandreisen meiner Mutter, vor dem Krieg.

Obwohl es Sommer ist, denken wir, daß es auf der Nordsee kalt und windig sein könnte, also nehme ich einen dicken Mantel mit und eine gute Mütze und ziehe unter die kurzen Sommer-Hosen lange Woll-Strümpfe an, Strümpfe fast so lang wie meine Beine, und dicke Socken und schwere Wander-Schuhe, denn ins Gebirge sollte ich keine Sandalen mitnehmen. Und meine Beine sind empfindlich gegen Kälte, denke ich.

Mit einem großen Militärbus fahren wir nach Cuxhaven, die ganze Familie des Offiziers und andere Familien und viele Soldaten, ich bin fast der einzige, der nicht im Kilt reist, aber alle Soldaten und fast alle Jungen. Wie das so ist, beginne ich mich schon zu schämen, daß ich Hosen anhabe und den Kilt noch nicht annehmen kann.

Wie wir in Cuxhaven die Gangway zum Schiff hochgehen, bin ich froh, keinen Rock anzuhaben, denn der Wind weht den anderen die umfangreichen Rockfalten hoch, und ich denke, da muß es ihnen ja recht kalt sein. Aber jeder weiß, wie er den Kilt runterhält, wie die Frauen und Mädchen es ja auch tun — nur ich habe keinen Grund zu dieser typischen Gebärde.

Meine erste Seereise! Und obwohl die Sonne scheint, ist es auf der Nordsee herbe, der Wind ist kühl, manchmal kalt. Etwas schaudert es mich vor diesem großen Eisen-Ding, dem Dampfer mit dem dicken schwarzen und stinkenden Rauch während der ganzen Reise. Auf dem Schiff bin ich nun ganz unter Schotten, einige Engländer sind auch dabei, die ich daran erkenne, daß sie Hosen tragen — alles in dieser typisch britischen gelblich-grünen Uniformfarbe, selbst manche Soldatinnen im Kostüm in dieser Farbe. Und nun nehme ich mir auch meinen Kilt, besser, ich lasse mir von meinen Freunden helfen, denn es ist eine besondere Kunst, ihn richtig anzuziehen.

Trotz der Erfahrung mit dem jungen Soldaten auf dem Lastwagen behalte ich meine Unterhosen an und sehe, auch die anderen Jungen tragen etwas ähnliches: flaschengrüne „bloomers“, wie sie sagen. Meine eigenen weißen, flatterigen Unterhosen sind mir zu auffällig und ich lasse mir später solche „bloomers“ geben, das sind 1/4-Schenkel-lange, sehr weite, bauschige Schlüpfer, die unten mit einem Gummiband um die Schenkel liegen. Sie werden bei uns nur von Mädchen getragen, zum Beispiel von meinen Schwestern, und ich finde sie häßlich an deren Beinen. Doch so ernst nehme ich das nun nicht, die Jungen hier tragen sie ja alle, die Mädchen auch. Dennoch mag ich es nicht, wenn sie zu sehen sind, wenn ich sitze und der Kilt etwas hoch rutscht, oder wenn der Seewind ihn hochweht. Ich glaube, wenn wir Jungen diese bauschigen „bloomers“ unterm Rock tragen, sehen wir etwas breiter aus, nicht so dünn und schmal wenn nur der Kilt unseren Unterleib umhüllt.

 
 Bild 4
Die Einfahrt zum Firth of Tay, Dundee, von der Nordsee aus. 
Mein langes Unterhemd habe ich weg gelassen.

Zwei junge Soldaten auf Heimaturlaub und Jacky und ich. Mr. Agnew fotografiert und bittet mich, den Kilt ein wenig zu heben, um die dunkelbraunen, langen Strümpfe zu zeigen, die so ungewohnt für die Schotten sind. Für das Foto habe ich über die langen Strümpfe die guten schottischen Wollkniestrümpfe gezogen. Die anderen tragen aber einfache Kniestrümpfe wie sie zur soldatischen Uniform gehören. Es ist ziemlich windig, und einige Kilts flattern. Ich weiß nichts über die Bedeutung der beiden Käppis, außer daß sie schön sind. Mein Kilt ist orange mit Rot und schwarzen Karostreifen, die anderen Kilte sind rot und weiß mit schwarzen Streifen*). Meine Jacke ist dunkelgrün, die Jacken der anderen sind gelblich-grün und gehören zur ihrer Uniform.

*) in Wirklichkeit weiß ich nicht, welchen Tartan die britischen Soldaten
in Hameln trugen, wer weiß es? Welches Regiment war es?
Kommandeur war Colonel Riddle, der vor einigen Jahren
gestorben ist. Mein Bruder hatte noch lange Kontakt mit ihm.



Gelassen stehen die Leute an der Reeling, und es ist ein märchenartiges Bild, wie ihre bunten Kilte umherflattern — flattert meiner auch so? Alle Jungen und Männer scheinen ihre Knie so richtig zu zeigen, ihre dünnen dunkelgrünen oder dicken weißen, gestrickten Wollstrümpfe lassen die Knie frei, und der Kilt auch. Das ist mir zu nackt, also behalte ich auch auf dem Schiff meine langen Baumwoll-Strümpfe an. Es wundert mich, daß sie zum Kilt nie welche tragen, und das habe ich später auch an Land nie gesehen. Ich bin da eine Ausnahme, denn ich liebe meine Strümpfe und rolle sie nur runter, wenn ich schon fast schwitze, was im schottischen Hochland selten ist. Und über die langen Strümpfe ziehe ich manchmal noch die schottischen Kniestrümpfe — wie ihr es auf dem Bild sehen könnt. Nur ganz oben unter dem Kilt sind meine Beine nackt, nur auf eine kurze Länge von einer Hand-Breite. Doch da sind sie ja bedeckt vom langen Unterhemd und vom Kilt; selbst wenn er flattert, denn oben ist er enger genäht.

Zuerst war es ein eigenartiges Gefühl, nichts zwischen den Schenkeln zu haben, die Beine sind sozusagen in einer weiten Röhre. Das hatte ich noch nie. Als ich später, in den schottischen Bergen keine englischen Bloomers oder deutschen Unterhosen mehr trug, war das Gefühl noch seltsamer. Zuerst schämte ich mich, so zu sagen: es gehört sich doch, eine Unterhose zu tragen. Da mache ich etwas Verbotenes, wenn ich unterm Kilt nackt bin, so fühlte ich zuerst, doch bald legte sich dieses Gefühl. Und dann genoß ich meine Nacktheit im´Kilt. Diesen Genuß habe ich das ganze Leben nie verloren.

Obwohl ihre Kilte so bunt sind, ist die Kleidung der Leute sonst sehr eintönig und fast trübe dunkel: in den Militärblusen oder -hemden, die alle diesen gelblich-grünen Ton haben.

Im Hafen von Dundee steigen wir wieder in einen Militärbus, der uns zum Bahnhof  bringt. Nun ist es schon ein großes Gefühl im Kilt zu gehen, ein weites Gefühl, weniger eingeengt als in Hosen, auch und besonders, weil er so bunt ist und weil alle Jungen in unserer Gruppe einen tragen. Sonst sehe ich selten einen im Kilt auf den Straßen. Und es ist etwas Leichtes in so einem Rock, mir fällt das Wort „lebendig“ ein. Es ist gemütlich in ihm, besonders in meinem, der auch die Knie bedeckt und warm hält, und den ich um die Knie wickeln kann. Es fühlt sich darin an wie in einem warmen Zimmer.

Im Zug ins Land rein, nach Perth, ich setze ich mich an ein linkes Fenster und sehe zuerst auf das Wasser des „Firth of Tay“, ein Meeresarm, und bewundere die Brücke über den Tay, eine hohe und lange Eisenbahnbrücke. Später kann ich zwei Ansichtskarten kaufen, auf denen ich genau neben der Brücke kurze, alte Pfeiler stehen sehe, nur noch Stümpfe, die eben aus dem Wasser ragen, mit ein paar Vögeln draufsitzend — hier stand mal eine ältere Brücke, und ich schicke eine von den Karten an meinen geliebten Englisch-Lehrer Dr. Schnaar, ja Friedrich Schnaar heißt er. Wie ich nach den Ferien in Hameln wieder zur Schule gehe, erzählt er mir, daß der Dichter Theodor Fontane (der ja viel in Schottland lebte) über diese ältere Brücke ein Gedicht geschrieben hat, in dem er ihren Einsturz im Sturm beschreibt, und wir lesen es zusammen in der Klasse und ich muß von meinen Erlebnissen erzählen und morgen soll ich meinen Kilt tragen (den ich noch nicht wieder abgeben musste, und in dem ich nun keine Scham mehr hatte). Dr. Schnaar war begeistert diese Karte zu bekommen, denn er war noch nie auf den britischen Inseln gewesen, und so gestaltete er eine ganze Unterrichtsstunde zu Schottland und allem. Doch zurück zur Reise in die Berge:

Im Bahnhof des Städtchens Perth verteilen wir uns, und ich reise weiter mit meiner Familie Agnew nach Norden in die Highlands in die Nähe des großen und kahlen Schehallion-Berges, wo die Agnews ein Haus besitzen, ganz auf dem Lande und hoch am Berghang und mit einem weiten Blick über das Loch Tummle, einer dieser langen Seen, in denen Ungeheuer vorkommen sollen. Das Haus steht mit wenigen anderen sehr einsam, es ist grau, wie auch das Steindach. Hier ist kein Wald, nur wilde Heide, auf der Schafe und absonderliche Kühe grasen und auch Hirsche und Schneehühner vorkommen sollen. Die Schafe und Kühe werden von den jungen Leuten, auch von Kindern gehütet, und schon am nächsten Tag gehe ich mit raus.

Von der Bushaltestelle müssen wir noch 2 Sunden durch diese wilde Gegend bis zum Haus gehen, es ist sehr mühsam, auch weil der Weg sehr steinig ist, und immer wieder stolpere und rutsche ich hin und reiße mir ein Loch in einen Strumpf, und abends muß ich stopfen, und ich  bin froh, daß mir meine Mutti noch als Reiseübung das Stopfen beigebracht hatte, aber es ist richtig romantisch, mit den anderen am brennenden Kaminfeuer zu sitzen und Strümpfe zu stopfen. Sehr glücklich bin ich, hier zu sein. In dem Haus ist es kalt und feucht, und Frau Agnew hatte schon bald in dem Kamin ein großes Feuer gemacht, das nun die ganzen Ferien über brennt, mit Holz und mit Kohlen. Die stinken etwas, fast wie der Dampfer. Neben den Wegen haben sie Steinwälle, hinter denen die Schafe leben, mal eine Herde mit schwarzen Gesichtern, mal eine mit weißen Gesichtern.


Bild 5
Die schottischen Gebirgskühe und ein Hütejunge bei Regen, Sturm und Nebel, und es ist gerade recht kalt.

 Und diese Kühe! Ich denke, die sind von einem anderen Stern: ihr beiges Haar hängt ihnen über die Augen, sie haben wirklich sehr lange Hörner, doch Angst hat man vor ihnen nicht, denn sie sind lieb und zahm und klein.

Ab und zu kommt ein junger Schafhirte heran und begrüßt uns, und diese Jungens tragen alle Kilte, schön bunt und auch unterschiedlich in den Farben, und ich sehe sie schon von weitem an dem grellen Rot oder Blau oder Grün. Sie rufen fröhlich herüber, „nice weather today,“ obwohl es gerade regnet und ihre Gesichter und Beine glänzend naß sind und die Haare triefend im Gesicht hängen. Ja regnet und stürmt, und dazu Nebel, und ich freue mich über meinen dicken Mantel und über den dick-wollenen Kilt, der zwar um die Knie weht und die frische Luft unten an den Leib lässt, aber er wird nie wirklich naß, und das bißchen Nässe, das reingesaugt wird, trocknet sofort wieder. Die Schäfer tragen gegen Regen und Wind eine dicke Wolljacke, manchmal recht kurz, meine ich, und an den Beinen und Füßen nichts, die müssen ganz schön abgehärtet sein.

Und dieses Haus: es ist nicht verputzt, auch innen nicht, und ich komme mir vor wie in einer Höhle im Felsen, und der große Raum in der Mitte ist recht dunkel, aber elektrisches Licht haben sie nicht, nur mal eine Kerze oder eine Petroleumlampe, die stinkt, und das Fenster ist klein. Mit den beiden anderen Jungen Jacky und Mike wohne ich in einer kleinen Kammer unter dem Dach, und ein Rauchrohr vom Kamin her erwärmt es etwas. Zwischen die Steine auf dem Dach haben sie Moos gestopft, das den Wind abhält.

Die beiden hatten sich schon vorher gewundert über meine langen Strümpfe. Und wie ich mich ausziehe, wollen sie die Strumpfhalter sehen und das Leibchen und alles, an dem sie festgeknöpft sind. Wir setzen uns nebeneinander auf ein Bett, und ich ziehe meinen Kilt hoch, damit sie alles sehen können. Sie finden diese Kleidung so eigenartig wie unsere Leute in Hameln es eigenartig finden, daß Jungen Röcke tragen.

Am nächsten Tag holen sie sich ihre alten Kilte aus einer Truhe, schon etwas verschlissen und etwas zu kurz, denn die Kilte von gestern sind die Sonntags-Kilte, sage ich mal. Eigentlich sind es die Kilte in dem Muster, das zum ganzen Regiment ihres Vaters gehört. Doch die hier holen sie sich für die Ferien raus, in den Ferien nämlich tragen die Jungen und der Vater ihre Familie-Agnew-Kilte, die blau und grün kariert sind mit roten Streifen, ein wenig düster im Ausdruck. Nun ziehen sie auch diese bloomers nicht mehr an, und ich mag sie auch nicht und komme wieder auf meine deutschen weißen Unterhosen zurück. Doch nach zwei Tagen ziehe ich auch die nicht mehr an sondern habe nichts mehr drunter, wie die anderen auch — und wie jener Soldat auf dem Lastwagen. Und nun erst fühle ich mich richtig wohl in meinem knielangen Kilt (eigentlich ist er etwas zu groß) und wohlig eingewickelt — wie in eine warme Wolldecke — und schon ein wenig schottisch. Und sie gehen barfuß, was für mich schwierig ist, denn alles ist so steinig, und meine Knie frieren und ich behalte erstmal die dicken Wanderschuhe und die langen Strümpfe und ein langes, warmes Unterhemd an, lang bis fast an die Knie — und meinen wollenen Rollkragenpullover. So ist mir wirklich warm, auch an den beinah nackten Schenkeln. Da sind also:
die Strümpfe, das Leibchen, das fast bis zum Po reicht und an das ein oder zwei
Strumpfhalter angeknöpft sind, das lange Unterhemd und der Kilt, und oben der
Rollkragenpullover und eine dicke Wollmütze. Wenn es mir zu
windig ist, ziehe ich den Mantel über alles.
Mama sagte während wir alles ausrüsteten, „da haben wir Mädchen für euch Kilt boys doch gut vorgesorgt, oder?“ Ja, es ist ein wenig Mädchenkleidung, auch der Kilt, und ich fühle mich sehr wohl darin, etwas mädchenhaft, was ich mag.

Die Stimmung mit den Agnew-Kindern ist hier ganz anders als in Hameln auf der Gaußstraße, wo sie wohnen. Sie stehen früh auf und stürmen erstmal nach draußen, auch wenn es regnet. Später erst kommt das Frühstück.
Einige Tage später kommt eine Familie aus dem südschottischen Flachland zu Besuch, aus den Lowlands. Und nun entdecke ich etwas über Sprachen, denn unter einander sprechen die eine Sprache, die ist nicht englisch sondern ähnelt eher dem Deutschen, und ich verstehe ab und zu etwas, jedenfalls besser als englisch.


 Bild 6
Der Schehallion-Berg und die Sommerhütte der Agnews.

Und dann erklären sie mir noch was über die alte schottische Sprache, die sie gälisch nennen, aber nur noch wenige Leute können sie richtig sprechen, sagen sie. Und, obwohl diese Leute aus den Lowlands sich auch als Schotten verstehen, tragen sie keine Kilte. — Übrigens, wie verständige ich mich eigentlich? Herr Agnew und seine Frau können einigermaßen deutsch sprechen, und das reicht dann, doch ich versuche auch, mein Englisch zu verbessern, was sehr viel bringt, wie Dr. Schnaar mir nach den Ferien bestätigt, obwohl ihm meine neue (schottische) Aussprache nicht so gut gefällt. Doch ich verstehe nicht, was er damit meint.

Hier aber begeistere ich mich immer mehr am Kilt. Er ist DAS Kleidungsstück für mich. Er IST ein Rock, wenn auch die Schotten sagen, daß ein Kilt kein Rock („a kilt is a kilt, never a skirt“) sei, aber ich glaube, das sagen sie nur, um sich von den Frauen zu unterscheiden, sie haben etwas Scham davor, sich wie eine Frau zu kleiden. Ich denke aber, das ist alles nur eine Spielerei. Mein Kilt ist orange, und sie sagen er ist aus Ulster, was eigentlich zu Irland gehört, also nicht schottisch ist. Dabei lerne ich, daß der Kilt auch in Irland und sogar in Wales getragen wird, aber seltener als hier.
 
Bild 7
So ungefähr sieht mein Kilt aus, ein berühmtes Gemälde von Milrais
 
Meiner ist sehr lebendig in seinem strahlenden Orange mit ein paar schwarzen und roten Karostrichen drauf. Ja, Irland und so: bevor ich losreiste, hat meine Mutter mir extra Erdkundeunterricht gegeben, wir sind die Karte von Groß Britannien durchgegangen, die unter einer Glasscheibe oben auf einer kleinen Truhe angebracht ist, sehr alt und sehr wertvoll, aber immer noch alles richtig, sagt sie.

Hier in Schottland tragen alle Jungen zur Schule kurze Hosen, aber in den Ferien und bei Festen gilt für viele nur ihr Kilt, auch für die Agnew-Jungen, und für den Vater natürlich auch. Ach ja, und in Hameln tragen sie den Kilt, um sich von den deutschen Jungen zu unterscheiden, allerdings in dem roten und weißen Tartan des Regiments. Auch jede Familie hat ein eigenes Muster, alles Karo-Muster, Tartan genannt. Da ich keiner dieser Familien angehöre, ist es egal, was ich trage, und wenn ich aussuchen könnte, würde ich den Tartan dieses Landstriches hier wählen, er ist in strahlenden, grünen und blauen Farben, mit noch einem dünnen, roten Strich drin, er wird hier in der Gegend viel getragen, heißt Grampian wie eben diese Gegend — soweit man überhaupt sagen kann, daß Kilte hier „viel“ getragen werden, eher selten, eben fast nur auf Festen und in den Ferien, wenn sie auf dem Lande leben. Er ist heller als der Tartan der Agnews, er strahlt sogar. Doch ich bekam ja diesen Kilt mit den orangen Farbtönen, den ich an mir sehr mag, er steht mir, denke ich, und ich mag gar nichts anderes mehr anziehen. Er passt auch zu den erd-braunen Strümpfen und dem hellgrauen Pullover.

Mr. Agnew macht Fotos — auch schon auf dem Schiff —, und so bekam ich einige Bilder, doch für diesen Bericht habe ich sechs Bilder neu gezeichnet, weil ich gerne zeichne und weil ich Einzelheiten reinbringen oder weglassen kann, anders als im Foto. Ihr seht, die Röcke und Kleider der Mädchen sind länger als die Kilte der Jungen. Auch tragen sie meistens schwarze, lange Strümpfe, die Jungen nie — mit meiner Ausnahme. Wenn es warm ist, lassen aber alle die Strümpfe und Schuhe weg, nur nicht in der Schule oder wenn sie in die Stadt fahren. Da gehört es sich, lange schwarze Strümpfe anzuziehen.
 
Bild 8 
Zwei Mädchen und zwei Jungen vom Dorf, Mike zeigt uns
seine „bloomers“; ganz hinten stehe ich, ausnahmsweise mit nackten Beinen.
 
Einmal bekomme ich — zur Erinnerung sagen sie — ein besonderes Buch geschenkt, Wee Gillis. Es erzählt mit hübschen Zeichnungen die Geschichte eines Jungen, der sich entscheiden muß, ob er zu den Schotten im Gebirge oder in den Lowlands gehören will, schließlich ist sein Weg, daß er immer hin- und herwandert, beim Kilt bleibt und den Dudelsack für alle spielt, als umherziehender Musiker.

Manches ist in dem Buch so gezeichnet wie ich es auch gesehen habe. Zum Beispiel die Häuschen und die Schafsweiden und diese niedlichen Kühe. Und zum Beispiel das Frühstück: eine Schale mit Hafergrütze und Schafsmilch, und einmal habe ich mir eine Schale voll auf meinen Kilt geschüttet, und ihr werdet euch wundern: nichts blieb auf dem Kilt zurück, denn schnell sprang ich auf und schüttelte die Milchtropfen vom Stoff und . . . er war sauber wie vorher. Diese Schafwollstoffe sind doch was Wunderbares — dafür ist es auch viel Arbeit, die Schafe zu hüten, zu scheren, die Wolle zu bearbeiten, zu färben, zu spinnen und am Ende die Stoffbahnen und den Kilt zu machen. Alles wird zuhause oder in kleinen Werkstätten gemacht. Und deswegen sind die Kilte so teuer.

Was ist denn eigentlich ein Kilt genau? Das ist ein Wickelrock, der aus einer Stoffbahn von 6 m Länge besteht, wenn er für Erwachsene ist, doch für Jungen ist die Bahn natürlich kürzer, Mädchen tragen ja keine, sie tragen Röcke wie bei uns auch. Die Breite der Bahn ist so, daß der fertig gewickelte Kilt eben oberhalb des Knies endet — es ist ein Stolz der echten schottischen Männer und Jungen, daß die Knie für alle sichtbar sind, vielleicht tragen sie deswegen keine langen Strümpfe, obwohl es im Winter doch recht kalt sein muß. Ich habe hier ein Buch gesehen, das heißt „Red Legs”, von einem Jungen, der so arm ist, daß er sich im Winter keine langen Hosen leisten kann und dessen nackte Beine, die sich aus dem alten und schon zu kurzen Kilt herausstrecken, immer rot vor Kälte sind, daher sein Name.

— Und ihre Knie betonen diese Schotten noch mit den wollenen Kniestrümpfen, die auf den Waden zu einer dicken Wurst umgeschlagen werden. Bei warmem Wetter ziehe ich meinen Kilt etwas hoch, damit meine Knie auch zu sehen sind, denn eigentlich reicht er zu weit runter, und rolle meine langen Strümpfe zusammen bis unter die Knie, das sieht dann schottischer aus.

Die Stoffbahn für den Kilt ist in der Mitte in viele Falten gelegt, doch an den beiden Enden ist sie ohne Falten. Die Falten sind am oberen Handbreit – meistens noch länger — festgenäht und der gefältelte Teil kommt nach hinten. Dieser obere Rand ist mit einem breiten Stück Stoff umnäht und sieht wie eine Art Binde aus, ohne Falten. Man beginnt mit dem Wickeln auf der linken Hüfte, dann vorne, rechts und hinten herum wieder zur linken Hüfte, weiter bis vor den Bauch bis die Bahn schließlich an der rechten Hüfte endet. Dort ist der Kilt also offen, er ist nicht zugenäht wie Röcke sonst, also ein Wickelrock.

Das alles bringt es mit sich, daß der fertig gewickelte Kilt über dem Po von der einen zur anderen Hüfte aus lauter Falten besteht. Doch vorne ist er platt. Der Kilt wird rechts durch zwei seitliche Schnallen und rundherum durch einen Gürtel gehalten. Die Stoffbahn ist unten und an den Seiten nicht gesäumt, und sie franst aus, was für Deutsche vielleicht unordentlich aussieht. Doch mir kommt es vor, daß nicht nur der Rock sondern auch der Stoff nach unten offen ist — und das gibt mir ein Gefühl, nach dem ich mich sehne soweit ich mich erinnern kann: der Erde nahe, offen für die Begegnung mit der Erde, so sage ich das heute.

Dort, wo der Gürtel ist, ist eine Art Trennung zwischen unten und oben, und ob das seelisch so gesund ist, weiß ich noch imme nicht. Später habe ich die Idee — und auch mal die Erfahrung —, daß dieses eine Trennung zwischen meiner Bindung mit der Erde und meinem Denken und Wissen im Kopf ist. Das Vollständigste wäre es, wenn beide ineinander übergingen, ohne diese Trennung, ohne Gürtel, in einem langen Kleidungsstück. Und dazu wäre eine Art Kleid mit Kapuze, also eine Mönchs-Kutte das beste. Doch das kann ich einem Kind nicht empfehlen, das wäre zu viel Hinwendung auf solcherart Vorstellungen. Und das Leben eines Kindes ist fröhlicher und lebendiger.

Wenn ich in einer Kutte — ich hatte nie eine — die Kapuze über meinen Kopf ziehen würde, dann öffne ich mich der Erde und den tiefen Gefühlen. Und ich öffne mich dem Himmel und dem Denken und Wissen, wenn ich sie absetze. Das erste ist eher weiblich, das zweite eher männlich. Am Ende ist beides in mir und ich liebe es, in beidem zu leben.
 

Bild 9 
mein Kilt im irischen Ulster-Tartan.  
Wegen der Hochland-Kälte trug ich meistens  
meine Langen Strümpfe 
und den Pullover

Weil der Kilt so viele Falten hat, kann er weit umherwehen wenn der Wind ihn hebt oder ich tanze. Das Umherwehen mag ich, dann kommt kühle Luft an meinen Körper und die anderen können sehen, was ich unter dem Kilt trage — wie das bei den Mädchen bei uns ja auch ist. Und meine Strumpfhalter werden manchmal auch sichtbar. Die Frauen mögen ja nicht gerne, wenn ihre Halter von den anderen gesehen werden, aber mir macht es Spaß — bin ja auch keine Frau . . .

— und wenn ich heute — nach Jahrzehnten — diese Fotos von mir sehe, finde ich das sogar süß.

Auch sonst ist ein Kilt sehr bequem, weil es geräumig ist in ihm. Fahrradfahren müsste auch gehen, doch das habe ich nie gesehen, doch bei uns zuhause fahren Frauen und Mädchen ja auch im Rock Rad. Und wenn sie richtig sein sollen, sind die Kilte bunt kariert, nach einem Tartan, das heißt nach einem Muster, das zu einer Gruppe von Familien gehört, Clan genannt, oder auch zu einer Landschaft — mein geliehener orange Kilt gehört ja zur Landschaft Ulster, doch sonst habe ich mit dieser Landschaft nichts zu tun — oder er gehört zu einem Soldaten-Regiment. Ach, das habe ich ja schon geschrieben.

Absonderlich ist auch, daß die Schotten nicht ein Wappen-Tier haben wie wir den Adler, sondern eine Wappen-Pflanze, und dazu eine recht stachelige: die stacheligste Distel, die ich mir denken kann. Überall haben sie sie abgebildet. Und das soll so gekommen sein, hat Frau Agnew mir erzählt:

Vor hunderten von Jahren haben mal Wikinger aus Norwegen eine schottische Soldatenschar angegriffen. Es war Nacht und Neumond, und die Schotten schliefen und die Wikinger dachten, so ist das Anschleichen am einfachsten. Rund um das Lager wuchsen aber diese Disteln, und als die Wikinger mit ihren nackten Füßen in das Distelfeld kamen, schrien sie vor Schmerz auf, und der Angriff konnte abgeschlagen werden, und die Schotten verfolgten die Wikinger bis zu ihren Schiffen, so daß die Wikinger erstmal das Land verlassen mußten. Zum Dank wurde die Distel zur Wappen-Pflanze erkoren.

Von einem dumpfen Knall wache ich auf, schade, dieser schöne Traum ist so plötzlich zuende. Was war das denn, dieser Knall? Neben mir liegt ein Buch und meine Mutti steht da und schreit „aua, ich habe mich gestoßen“. Und sie lacht dann und sagt, „sieh mal, was ich für dich erstanden habe, ein altes Buch, wo du doch so für Schottland schwärmst“.

Schnell setze ich mich hin und nehme das Buch in die Hand: es ist das Buch, das die Agnews mir im Traum geschenkt haben, wie ist das möglich?

„Wee Gillis“ von Munro Leaf und Robert Lawson. Es ist nach so vielen Jahrzehnten noch immer bei mir, und wenn ihr da mal reinschaut, könnt ihr die Lowlander und die Highlander sehen, wie sie leben, lebten in alter Zeit, ich weiß nicht, ob es noch heute so ist, heute im Jahre 2005. — Die schottischen Soldaten haben Hameln nach etwa zwei Jahren wieder verlassen. Später habe ich Schottland nur einmal kurz besucht und niemanden getroffen, die oder den ich kannte — wie sollte auch, da alles nur ein Traum war. Doch auf dieser Reise 1978 habe ich ein paar Fotos gemacht, und einiges in diesem Traum habe ich dort wirklich gesehen. Doch meine Träume über Schottland kommen von meiner uralten Vorliebe für Kilte und für farbige Kleidung. Und heute trage ich nur Röcke, viele mit schottischen Tartans, doch da meine Beine wegen einer alten Krankheit Bedeckung brauchen, reichen meine Röcke alle bis in die Mitte der Waden oder tiefer, und die Sitte mit den langen Strümpfen habe ich deswegen auch beibehalten, im Winter bunte aus Wolle, selbst gestrickt.

Dann nähte mir eine Freundin, Carry heißt sie, vollendete Röcke, die eine gewisse Ähnlichkeit mit echten Kilts haben — danke Dir! Dazu kaufe ich mir echte Tartans, unter anderem Buchanan, Flower of Scotland, Dawn (IR) …

Im September 2007 traf ich einen schottisch-deutschen Jungen, Samuel, der sah sofort, daß der Rock, den ich gerade trug, vom Tartan Buchanan ist, aber er sprach das Bjukännen aus, und sein Vater (und damit Samu auch) sei aus diesem Clan – das fand ich sehr schön, danke Samu. Nun ist die Familie nach Thüringen gezogen.

Im Jahre 1845 wurde von James Logan ein Buch veröffentlicht mir vielen bunten Bildern von Schotten im Kilt in Clan-Tartans, die Robert Ronald McIan entworfen hatte. Es heißt „The Clans of the Scottish Highlands“. Ihr könnt die einzelnen Bilder sehen in der Internet-Seite http://www.the-clann.co.uk/book/additions/mcian.htm . 100 Jahre später, 1948, gab es nochmal eine kürzere Fassung einiger Bilder aus diesem Buch in „Highland Dress“ von George F. Collie. Er beschreibt auch die Geschichte des zuerst genannten Buches. Unter http://www.the-clann.co.uk/book/highland_dress.htm könnt ihr mehr lesen. Dieses Buch habe ich, das von 1848 ist mir aber zu teuer, obwohl ich hoffe, daß es mal wieder nachgedruckt wird — heute, wie es wieder ein wenig in Mode kommt, daß Männer Röcke tragen, und viele von den heutigen Rockträgern tragen Kilte, andere Männer aber tragen andere Arten von Röcken mit schottischen oder irischen Tartans oder anderen Mustern, seht mal in die Internetseite www.rockmode.de und von dort weitere Links.

So, und nun werde ich anfangen, die Bilder zu meinem Bericht — erträumt oder echt — zu zeichnen, sie sind — außer dem Brückenbild — lange ersehnt, schon immer, seit meiner frühen Kindheit in den 1930er Jahren in Hameln. Das erste Bild mag es aber gewesen sein, das ich mit etwa 10 gesehen habe, und das den Anlass zu der ganzen Hinwendung meiner Fantasien gab.

Vieles habe ich in den schottischen Bergen erlebt. Besonders mit Jacky, den älteren Sohn der Agnews. Nach ein paar Tagen merkten Jacky und ich, daß wir uns liebten — so schlicht wie halbwüchsige Knaben sich eben lieben können. Das gab manche schöne Erlebnisse, und für mich war es der Beginn meiner Liebeskraft überhaupt.

Da erinnere ich mich an eine Tageswanderung zum Shehallion-Berg, erst mit einem besegelten Ruderboot über das Loch Tummel, dann zwei oder drei Stunden den Berghang hinauf. Mit vielen Pausen — Jacky ist einen Kopf länger, obwohl wir gleichalt sind. Einmal umfasste er mit seinen Händen mein Gesicht, „du bist so schön, ich muß deine — Wangen küssen, darf ich?“ — und bald küssten wir einander auf ganz süße Weise. — auch die Lippen, die Augen  . . . es war sehr schön, wunderbar . . . ich konnte mich hingeben . . .

Wie wir weiter stiegen, fragte Jacky, ob er meine Strümpfe fühlen dürfte, die Knie in den Strümpfen, und ich hob den Kilt etwas und zeigte sie ihm, und Jacky streichelte die Beine in den Strümpfen — was mir sehr genüßlich war.

Jacky strich die Beine immer höher, bis er den Rand des Strumpfes erreichte und meine nackte Haut berührte. Das war mir sehr wohl, seine kühle Hand  . . . und er sagte, „du bist wirklich ein sehr schöner Knabe! Wie schön, daß du auch wie wir einen Kilt angezogen hast.“

Wir legten uns in die Kräuter und wälzten uns miteinander und küssten uns wieder. Und wir schlangen unsere Arme einander um Hälse und Köpfe. Wie gesagt, es war ein steiler Hang, Wiese, Gras, Kräuter. Wir küssten uns voller Inbrunst und merkten kaum, daß wir etwas runterutschten, mit den umschlungenen Köpfen zuunterst, in ein verdeckendes Blättergebüsch. Unsere Kilts flatterten im Gras, und unsere Beine waren entblößt — außer meine dicken Stiefel und die dunklen Strümpfe, die meine Beine bedeckten. Alles war bloß, merkten wir erst nachher — und zurück im Agnew-Haus zog ich mir wieder meine Unterhose drunter, es war mir zu nackt gewesen da oben am Hang. Wie gut, daß niemand vorbei kam.

Bild 10 
ich küsse mich mit Jacky im Gebüsch, 
unsere Kilts sind sehr verrutscht, 
weiß leuchten unsere Unterhemden hervor.
Wir haben — zögernd und leise — unser Erleben
 den Agnews erzählt, und der Maler, der gerade 
zu Besuch war, hat dieses Bild gemalt.  
Schlichte Knabenliebe ohne Scham

1946: a German boy visits Scotland and falls in love
 with Jacky here they kiss hidden under a shrub. 
The German boy wears long stockings as it was then 
usual in Germany in cold season Jacky not.  
Simple boy love without shyness


Dann liefen wir juchzend den Hang wieder runter zur Bootslände, wo eine Familie angekommen war, die Mutter sprach deutsch. Unsere Kilts wehten. Das älteste Kind, ein Mädchen war in unserem Alter und trug ein hell-grünes Kleid. Die Mutter zeigte auf die Beine des Mädchens und sagte, „Irene trägt auch lange Strümpfe. Weißt du, was das bedeutet?“

„Vor zwei Jahren ging es ihr schlecht, sie fühlte sich so unsicher in ihrem Leben, auf dieser Welt, besonders hier im Ausland, pinkelte nachts ins Bett und weinte viel. Und in der Schule mochte sie nie sein. Im Sommer war das schlimmer, im Winter ging es ihr besser. Da riet uns der Kinderarzt, ihr lange Strümpfe zu geben, auch im Sommer, vielleicht dünne, aber beige oder braun, wie die Erde. Nicht lange Hosen, nicht nackte Beine.“

„Und magst du deine Stümpfe?“ fragte ich, „ja, sehr, das ist ein gutes Gefühl, möchte ich sogar im Bett anbehalten,“ sagte Irene. „Wie befestigst du sie?“ „natürlich mit Strumpfhaltern, was sonst. Und die habe ich am Strumpfhaltergürtel.“ — Ich merke, mit meinem Leibchen bin ich etwas kindhafter angezogen. — „Ich fühle mich sicherer, ruhiger  . . .“ Irenes Strümpfe waren ziemlich dunkel braun, wie die Moorerde hier.

Für mich entdecke ich, daß es mir ähnlich geht, meine Mutter wusste wohl von all diesen Dingen, als sie mir vor langer Zeit die Strümpfe anzog. Meine jüngeren Geschwister ziehen viel seltener welche an, vielleicht fühlen sie sich sicherer.

Wie Jacky und ich mit dem Boot wieder über das Loch Tummel ruderten, fühlte ich mich wohler — doch gegen die Unsicherheit der Wassertiefe (sind da Ungeheuer?) unter mir halfen die Strümpfe nicht, es muß schon Erde sein, oder Fels, große Felsbrocken. Jetzt verstehe ich endlich, was Mama ab und zu sagt, „du mußt schon richtig ja sagen zu deinen Strümpfen.“

Ein paar Tage später fuhr Frau Agnew mit uns Kindern in ein Nachbarstädtchen, mit dem sehr eigenartigen Namen Pitlochry. Sie wollte mir eine Weberei zeigen, wo die bunten Stoffe für die Kilts gemacht wurden. Die hatten auch einen Laden für dergleichen, schöne Stoffe, auch wollige Decken, sogenannte Plaids. Dann sah ich dort auch Schals und Strümpfe hängen, wohl für Mädchen, denn Jungs ziehen hier keine langen Strümpfe an, gehen lieber mit nackten Knien — oder manchmal sehr kleine Jungen, schwarze unterm Kilt. Die meisten Strümpfe im Laden waren bunt kariert, aber auch braune wie ich sie habe. Frau Agnew wollte mir welche anprobieren und kaufen. Das war mir hier im Laden etwas peinlich, meinen Kilt hochziehen und einen Strumpf vom Strumpfhalter lösen und ausziehen und einen anderen anziehen, doch ich tat es, im Stehen, und bekam ein neues Paar, auch braun, wie ich es wollte, ziemlich wollig — keine bunt karierten.

Das also war das Thema mit den Strümpfen an meinen Beinen. Die Kilte oder Knaben-Röcke war ein anderes, ein wenig auch das kindliche Erwachen der Liebesgefühle — angeregt durch diese offene Kleidung und einen anderen Jungen, Jacky. Wieso kam die Lust an den Kilts oder auch Mädchenröcken zu mir, als ich etwa 8 war. Das Bild in ATLANTIS kann es nicht allein gewesen sein. Das war einerseits die anerzogene Scheu, nur nie wie ein Mädchen auszusehen, also nie Mädchensachen tragen. Aber ich hatte auch den Reiz, gerade dieses Gebot zu hintergehen, nun gerade Mädchenkleidung anzuziehen. Doch da war mehr: Mädchenröcke haben etwas Freies an sich, der Wind weht unter den Rock und reizt die Lust des Körpers. Hosen engen die Körperfreiheit ein. Ein Kilt, also ein „Mädchenrock“ für mich als Knabe —  erlaubt in manchen Kulturen (später merkte ich, daß bis in die 1960er Jahre mindestens ein Drittel der Knaben und Männer auf der Erde Röcke trug, erst dann kam der schnelle Übergang zu langen Hosen, zu Jeans) — half mir, meine erotischen Gefühle zu erkennen und zu erleben. Diese Kleidung gehörte zu meinem inneren Ausdruck meiner Sensibilität, ich bin der, der sich hier so darstellt.

So erkannte ich, der Kilt wurde zu einem Mittel, mich selbst zu erkennen. Und ich bin froh, daß ich dieses Angebot meiner Seele so früh in mein Knabenleben übernahm.












Einige alte und neue Bilder aus dem Internet: Kilt mit langen Strümpfen.


von Aryaman Stefan Wellershaus
Ma.Aryafrau@gmx.de
Eingestellt von Aryaman, Dr. Stefan Wellershaus am 20.xii.2013
Labels: ein Hamelner Junge in Schottland 1946
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =