Ein Hamelner Junge im Kilt
Mittwoch, 26. August 2009
Erweitert am Dienstag, 17. Dezember 2013… vielleicht war es ein Rock?
Bild 1
Schottischer Junge im Kilt,
von R. R. McIan, etwa 1845. Clan Grant
Schottischer Junge im Kilt,
von R. R. McIan, etwa 1845. Clan Grant
Erinnerungen und Fiktionen (!): Schotten in Hameln —
und dann ein Hamelner Junge in Schottland —
meine Träumereien seit ich 10 war,
endlich hingeschrieben und hingezeichnet.
Kilt oder Rock, 1946
meine Träumereien seit ich 10 war,
endlich hingeschrieben und hingezeichnet.
Kilt oder Rock, 1946
eine Liste aller meine Blogs hier:
(von Aryaman)
Keine Bomben fielen mehr und zerstörten Häuser und
Bahnanlagen, keine Bomberpulks flogen mehr über meine Stadt Hameln in Richtung
auf eine Großstadt, keine Luftkämpfe zwischen feindlichen und deutschen
Jagdflugzeugen mit Leuchtspurmunition waren mehr zu sehen, nachts war die
Wolkendecke am Himmel nicht mehr rot vom brennenden Hannover oder Bielefeld,
keine abgeschossenen Flugzeuge oder zerstörerische Bomben fielen mehr vom
Himmel, es wurden keine ungenutzten Bomben mehr im Land verstreut — Notabwürfe,
und die Bombentrichter auf den Äckern waren noch Jahrzehnte lang zu sehen, und
wir Kinder suchten die scharfkantigen Bombensplitter in ihnen —, die
feindlichen Flugzeuge verteilten keine leeren Benzinkanister oder silberne
Staniolstreifen mehr über das Land, und keine toten Bomberpiloten wurden mehr
aufgesammelt.
Dafür waren fremde Soldaten in der Stadt und große Mengen
von Flüchtlingen aus Ostpreussen und Oberschlesien, und heimgekehrte und
besiegte und verwundete deutsche Soldaten in Lumpen . . . alles in Lumpen und
mit kleinstem Gepäck, Reste einer geschlagenen Armee in Lumpen, mit Armkrücken
humpelten manche über den Not-Steg neben der gesprengten Weserbrücke,
Hühnerleiter runter, Hühnerleiter rauf, wieder runter und rauf an die andere
Seite, die rennenden Kinder anfluchend „ihr reißt einem ja noch die Krücken
unter dem Arsch weg“ . . . , was uns amüsierte und erschreckte.
Und die Brücke über die Weser, erst vor 20 Jahren erbaut und
sehr modern im Stil, die ja noch in den letzten Kriegstagen von unseren Leuten
gesprengt worden war, wurde bald durch eine seitwärts gebogene hölzerne Notbrücke
ersetzt, über die zuerst nur die Wagen der Besatzer fahren durften. Auf dem
Werder rauchten erst noch die Trümmer der riesigen Kampfmeierschen „Wesermühle“
— und die Stadt war verstaubt und verdreckt und voller Leute, die nicht zu uns
gehörten. Auch wurden Kriegsverbrecher im Zuchthaus gehenkt, was die Hamelner
sehr erregte und verletzte, doch nun lag die Macht ja bei anderen.
Doch danach wurde das Leben für mich schön!
Bild 2
So sah der westliche Arm der Weserbrücke im Sommer 1945 aus, gesprengt, zusammengebrochen! Der zweite Not-Steg ist links
zu sehen, der erste war vorher rechts. Hinten links die Ruine der
Mühle. In der Mitte hinten das Münster. Gezeichnet nach einem Foto
von
Dr. Karl R. Berger, in einer Hamelner Zeitung vom 5. April 1975.
Dr. Karl R. Berger, in einer Hamelner Zeitung vom 5. April 1975.
Mein Vater war noch in Gefangenschaft — wie wir erst später
hörten, war er im Allgäu bei den Amerikanern.
Auch bei uns waren die Amerikaner mit ihren Jeeps, die sie
anstatt sie zu waschen mit einer neuen Schicht Farbe besprühten, jedenfalls war
das unser Eindruck. Die Amis, wie sie genannt wurden, waren grau-grün in ihren
Farben, ähnlich wie unsere „Landser“, doch ganz anders im Uniformschnitt und in
allem, was das Soldatische ausmachte, ja sie rochen auch ganz anders. Und
alles, was sie hatten, auch die Unterwäsche und die Taschentücher und die
Feuerzeuge (auch die Zigaretten und das Schreibpapier?) war in grüner
Tarnfarbe.
So war der Jargon wie wir Kinder uns damals ausdrückten, um
über das Geschehen zu sprechen.
Dann marschierten ganz andere Leute durch die Osterstraße in
der Stadt: mit eigenartigem, näselnden Flöten-Spiel ein Regiment bunter
Soldaten in roten Röcken, es waren Schotten mit Dudelsäcken und gekleidet im
Rock, das ist die Regiments-Uniform, ein Männer-Rock, wie ich hörte. Ich war da
12 bis 13 und begeistert von dieser Kleidung. Das herbe Soldatische war etwas
gemildert, diese Soldaten sehen einfach frischer aus als die Amis oder vorher
die deutschen „Landser“, zu denen auch mein Vater gehörte.
Ja, die Schotten und ihre Röcke. Schon seit ein paar Jahren,
mit 9 oder 10 hätte ich lieber einen Rock anstatt Hosen getragen, doch damals
hätte ein Junge das nicht laut sagen dürfen — ein Junge im Rock! Und nun aber
diese Leute, und ich konnte mich nicht satt sehen an den Schotten, wie bunt dieser
Rock war, und wie er beim Gehen umherschwang. Meine Eltern hatten ein paar
illustrierte Bücher mit kulturellen Nachrichten aus aller Welt. Und da hatte
ich schon bevor ich diese Schotten leiblich sah, alte Bilder von schottischen
Männern im Schottenrock gesehen. Und besonders berührte mich das Bild eines
schottischen Jungen in der Zeitschrift ATLANTIS (aus Zürich, März 1938, Seite
138 links unten ), der einen „Kilt“, wie sie ihren Rock nannten, trug — es war
wie ein Märchen aus einer anderen Zeit (seht das Bild ganz oben). Es war also
erlaubt: Jungen und Männer dürfen einen Rock tragen! Eine alte Sehnsucht in
meiner Seele nimmt Formen an.
Und dann diese Bemerkungen der Frauen: was tragen die wohl
unter ihrem Rock, etwa garnichts? Als ob irgendjemand fragen würde, was sie,
die Frauen unter ihren Röcken tragen. Doch selbst mich reizte diese Frage, und
ich bekam schnell eine klare Antwort, wenigstens für einen der Soldaten: zwei
von ihnen sitzen auf der Rückwand eines vorbeifahrenden Militär-Lasters, und ihre
Kilts hängen hinten über die Bordwand des Lasters herunter, in tausend Falten
gefältet. Einer der beiden hebt seinen Kilt und kratzt sich an der Pobacke, und
da sehe ich es: er ist nackt unter seinem Kilt, nicht mal einen Unterrock!
Irgendwie hatte ich das Gefühl, das ist schon richtig so, wozu sonst tragen die
einen Rock? Und trotz aufkommender Scham war DAS der Sinn des Kilts, auch für
mich.
Bild 3
Soldaten auf einem Militär-Laster, 1946 in Hameln gesehen.
Soldaten auf einem Militär-Laster, 1946 in Hameln gesehen.
Damit beginnt mein Märchen,
wie ich es mir als Junge gewünscht hatte, vielleicht ein Traum? — doch leider
traf es nie zu. Nun das Märchen:
In jenen Monaten 1946 kommt an einem Tag ein Mann zu uns,
ebenfalls in einen bunten Kilt gekleidet, zu uns in unser Haus und will meine
Eltern sprechen, er ist einer der Soldaten, ein Offizier. So, so, Ihr Mann ist
noch in Gefangenschaft, aber meine Mutter spricht mit ihm. Sie spricht ja
englisch, und so geht es, und obwohl ich schon drei Jahre englisch in der
Schule hatte, kann ich nur wenig verstehen. Meine Mutter ist sehr verlegen und
erklärt mir, daß Mister Agnew (gespochen Äg-Nju) behauptet, eigentlich sei ich
SEIN Sohn, und nur durch ein Versehen sei ich als ganz kleines Kind in diese
Familie gekommen als seine Frau in Hamburg mit ihrem Neugeborenen im Krankenhaus
lag. Und es hätte eine Verwechslung gegeben. Meine Mutter muß zugeben, daß das
möglich ist.
Ach nein, so wird das Märchen zu schwierig, obwohl es ein
Körnchen meiner Wünsche in sich hat. Ich muß es anders beginnen, nicht so
dramatisch, denn ich wäre nicht gerne in eine andere Familie umgezogen, hätte
nicht gerne meine Familie verlassen, nicht in dem kindlichen Alter, bestimmt
nicht. Also so:
Beim Spielen auf der Straße lerne ich ein paar Kinder
kennen, die zu einer schottischen Familie gehören, die in einem der deutschen
Häuser wohnen, das das Militär beschlagnahmt hatte, wie man sagte, für
Offiziers-Familien. Ja, und diese Jungen tragen einen Kilt. Natürlich habe ich
diese Begegnung herbeigefördert wegen meines Sehnens. Ich darf ab und zu diese
Familie Agnew besuchen, und es entsteht eine Offenheit und Freundschaft mit
mir, auch zu meiner Mutter, die über den Schatten ihres Nationalstolzes
springen kann, denn „die Schotten sind ja nicht unsere richtigen Feinde, sie
sind ja auch von den Engländern erobert und besetzt worden,“ erklärt sie. Und,
worum es mir ja geht: die zwei Jungen dieser Familie tragen fast immer ihren
Kilt. Sehr verlegen bin ich, wie ich einmal frage, ob ich auch mal einen Kilt
tragen darf, und ihre Mutter holt mir einen Kilt von ihren Söhnen und hilft
mir, ihn anzuziehen, was ganz anders ist als die Röcke, die ich an meinen
Schwestern sehe aber nie selbst versucht habe.
Die Freundschaft zwischen unseren Familien vertieft sich,
und auch mein Vater, als er aus der Gefangenschaft zurückkehrt, hat nichts
dagegen: „Feinde? das war einmal, nun ist der Krieg vorbei.“ Und dann kommt es:
ich werde eingeladen, für die Sommerferien mit der Familie in ihre schottischen
Berge zu reisen, mit einem Militär-Schiff von Cuxhaven nach Dundee.
Sie leihen mir einen Kilt, doch ich traue mich nicht, ihn
öffentlich in meiner Stadt zu tragen. Die Angst ist zu groß, als Mädchen
verspottet zu werden — aber wieso ist da diese Angst? einfach, weil sie vorher
schon geschürt wurde: ein Junge darf nie wie ein Mädchen aussehen, obwohl
Mädchen schon mal wie Jungen aussehen dürfen, da ist keine Angst. Ich bekomme
nun also einen Kilt geliehen.
An junge Leute wird ein Kilt lieber verliehen als fest
vergeben, weil ein Junge so schnell hinauswächst und dann kann der Kilt weiter
gegeben werden, Kilte sind sehr teuer und es wäre schade, wenn sie im Schrank
herumliegen würden.
Viel packen wir mir nicht in den kleinen Koffer, der Kilt
ist das dickste Kleidungsstück, ja und ein Pullover. Und ein Tagebuch (aus dem
ich diese Geschichte schreibe) und weiße Unterwäsche und Strümpfe, Nähzeug und
sowas. Und natürlich ein kleines Wörterbuch englisch-deutsch von einer der
Englandreisen meiner Mutter, vor dem Krieg.
Obwohl es Sommer ist, denken wir, daß es auf der Nordsee
kalt und windig sein könnte, also nehme ich einen dicken Mantel mit und eine
gute Mütze und ziehe unter die kurzen Sommer-Hosen lange Woll-Strümpfe an, Strümpfe
fast so lang wie meine Beine, und dicke Socken und schwere Wander-Schuhe, denn
ins Gebirge sollte ich keine Sandalen mitnehmen. Und meine Beine sind
empfindlich gegen Kälte, denke ich.
Mit einem großen Militärbus fahren wir nach Cuxhaven, die
ganze Familie des Offiziers und andere Familien und viele Soldaten, ich bin
fast der einzige, der nicht im Kilt reist, aber alle Soldaten und fast alle
Jungen. Wie das so ist, beginne ich mich schon zu schämen, daß ich Hosen anhabe
und den Kilt noch nicht annehmen kann.
Wie wir in Cuxhaven die Gangway zum Schiff hochgehen, bin
ich froh, keinen Rock anzuhaben, denn der Wind weht den anderen die
umfangreichen Rockfalten hoch, und ich denke, da muß es ihnen ja recht kalt
sein. Aber jeder weiß, wie er den Kilt runterhält, wie die Frauen und Mädchen
es ja auch tun — nur ich habe keinen Grund zu dieser typischen Gebärde.
Meine erste Seereise! Und obwohl die Sonne scheint, ist es
auf der Nordsee herbe, der Wind ist kühl, manchmal kalt. Etwas schaudert es
mich vor diesem großen Eisen-Ding, dem Dampfer mit dem dicken schwarzen und
stinkenden Rauch während der ganzen Reise. Auf dem Schiff bin ich nun ganz
unter Schotten, einige Engländer sind auch dabei, die ich daran erkenne, daß
sie Hosen tragen — alles in dieser typisch britischen gelblich-grünen
Uniformfarbe, selbst manche Soldatinnen im Kostüm in dieser Farbe. Und nun nehme
ich mir auch meinen Kilt, besser, ich lasse mir von meinen Freunden helfen,
denn es ist eine besondere Kunst, ihn richtig anzuziehen.
Trotz der Erfahrung mit dem jungen Soldaten auf dem
Lastwagen behalte ich meine Unterhosen an und sehe, auch die anderen Jungen
tragen etwas ähnliches: flaschengrüne „bloomers“, wie sie sagen. Meine eigenen
weißen, flatterigen Unterhosen sind mir zu auffällig und ich lasse mir später
solche „bloomers“ geben, das sind 1/4-Schenkel-lange, sehr weite, bauschige
Schlüpfer, die unten mit einem Gummiband um die Schenkel liegen. Sie werden bei
uns nur von Mädchen getragen, zum Beispiel von meinen Schwestern, und ich finde
sie häßlich an deren Beinen. Doch so ernst nehme ich das nun nicht, die Jungen
hier tragen sie ja alle, die Mädchen auch. Dennoch mag ich es nicht, wenn sie
zu sehen sind, wenn ich sitze und der Kilt etwas hoch rutscht, oder wenn der
Seewind ihn hochweht. Ich glaube, wenn wir Jungen diese bauschigen „bloomers“
unterm Rock tragen, sehen wir etwas breiter aus, nicht so dünn und schmal wenn
nur der Kilt unseren Unterleib umhüllt.
Bild 4
Die Einfahrt zum Firth of Tay, Dundee, von der Nordsee aus.
Mein langes Unterhemd habe ich weg gelassen.
Die Einfahrt zum Firth of Tay, Dundee, von der Nordsee aus.
Mein langes Unterhemd habe ich weg gelassen.
Zwei junge Soldaten auf Heimaturlaub und Jacky und ich. Mr. Agnew fotografiert
und bittet mich, den Kilt ein wenig zu heben, um die dunkelbraunen, langen
Strümpfe zu zeigen, die so ungewohnt für die Schotten sind. Für das Foto habe
ich über die langen Strümpfe die guten schottischen Wollkniestrümpfe gezogen.
Die anderen tragen aber einfache Kniestrümpfe wie sie zur soldatischen Uniform
gehören. Es ist ziemlich windig, und einige Kilts flattern. Ich weiß nichts
über die Bedeutung der beiden Käppis, außer daß sie schön sind. Mein Kilt ist
orange mit Rot und schwarzen Karostreifen, die anderen Kilte sind rot und weiß
mit schwarzen Streifen*). Meine Jacke ist dunkelgrün, die Jacken der anderen
sind gelblich-grün und gehören zur ihrer Uniform.
*) in Wirklichkeit weiß ich nicht, welchen Tartan die britischen
Soldaten
in Hameln trugen, wer weiß es? Welches Regiment war es?
Kommandeur war Colonel Riddle, der vor einigen Jahren
gestorben ist. Mein Bruder hatte noch lange Kontakt mit ihm.
Gelassen stehen die Leute an der Reeling, und es ist ein
märchenartiges Bild, wie ihre bunten Kilte umherflattern — flattert meiner auch
so? Alle Jungen und Männer scheinen ihre Knie so richtig zu zeigen, ihre dünnen
dunkelgrünen oder dicken weißen, gestrickten Wollstrümpfe lassen die Knie frei,
und der Kilt auch. Das ist mir zu nackt, also behalte ich auch auf dem Schiff
meine langen Baumwoll-Strümpfe an. Es wundert mich, daß sie zum Kilt nie welche
tragen, und das habe ich später auch an Land nie gesehen. Ich bin da eine
Ausnahme, denn ich liebe meine Strümpfe und rolle sie nur runter, wenn ich
schon fast schwitze, was im schottischen Hochland selten ist. Und über die
langen Strümpfe ziehe ich manchmal noch die schottischen Kniestrümpfe — wie ihr
es auf dem Bild sehen könnt. Nur ganz oben unter dem Kilt sind meine Beine
nackt, nur auf eine kurze Länge von einer Hand-Breite. Doch da sind sie ja
bedeckt vom langen Unterhemd und vom Kilt; selbst wenn er flattert, denn oben ist er enger genäht.
Zuerst war es ein eigenartiges Gefühl, nichts zwischen den
Schenkeln zu haben, die Beine sind sozusagen in einer weiten Röhre. Das hatte
ich noch nie. Als ich später, in den schottischen Bergen keine englischen
Bloomers oder deutschen Unterhosen mehr trug, war das Gefühl noch seltsamer. Zuerst schämte ich mich, so zu sagen: es gehört sich doch, eine Unterhose zu tragen. Da mache ich etwas Verbotenes, wenn ich unterm Kilt nackt bin, so fühlte ich zuerst, doch bald legte sich dieses Gefühl. Und dann genoß ich meine Nacktheit im´Kilt. Diesen Genuß habe ich das ganze Leben nie verloren.
Obwohl ihre Kilte so bunt sind, ist die Kleidung der Leute
sonst sehr eintönig und fast trübe dunkel: in den Militärblusen oder -hemden,
die alle diesen gelblich-grünen Ton haben.
Im Hafen von Dundee steigen wir wieder in einen Militärbus,
der uns zum Bahnhof bringt. Nun ist es
schon ein großes Gefühl im Kilt zu gehen, ein weites Gefühl, weniger eingeengt
als in Hosen, auch und besonders, weil er so bunt ist und weil alle Jungen in
unserer Gruppe einen tragen. Sonst sehe ich selten einen im Kilt auf den
Straßen. Und es ist etwas Leichtes in so einem Rock, mir fällt das Wort
„lebendig“ ein. Es ist gemütlich in ihm, besonders in meinem, der auch die Knie
bedeckt und warm hält, und den ich um die Knie wickeln kann. Es fühlt sich
darin an wie in einem warmen Zimmer.
Im Zug ins Land rein, nach Perth, ich setze ich mich an ein
linkes Fenster und sehe zuerst auf das Wasser des „Firth of Tay“, ein
Meeresarm, und bewundere die Brücke über den Tay, eine hohe und lange
Eisenbahnbrücke. Später kann ich zwei Ansichtskarten kaufen, auf denen ich
genau neben der Brücke kurze, alte Pfeiler stehen sehe, nur noch Stümpfe, die
eben aus dem Wasser ragen, mit ein paar Vögeln draufsitzend — hier stand mal
eine ältere Brücke, und ich schicke eine von den Karten an meinen geliebten
Englisch-Lehrer Dr. Schnaar, ja Friedrich Schnaar heißt er. Wie ich nach den
Ferien in Hameln wieder zur Schule gehe, erzählt er mir, daß der Dichter Theodor
Fontane (der ja viel in Schottland lebte) über diese ältere Brücke ein Gedicht
geschrieben hat, in dem er ihren Einsturz im Sturm beschreibt, und wir lesen es
zusammen in der Klasse und ich muß von meinen Erlebnissen erzählen und morgen
soll ich meinen Kilt tragen (den ich noch nicht wieder abgeben musste, und in
dem ich nun keine Scham mehr hatte). Dr. Schnaar war begeistert diese Karte zu
bekommen, denn er war noch nie auf den britischen Inseln gewesen, und so
gestaltete er eine ganze Unterrichtsstunde zu Schottland und allem. Doch zurück
zur Reise in die Berge:
Im Bahnhof des Städtchens Perth verteilen wir uns, und ich
reise weiter mit meiner Familie Agnew nach Norden in die Highlands in die Nähe
des großen und kahlen Schehallion-Berges, wo die Agnews ein Haus besitzen, ganz
auf dem Lande und hoch am Berghang und mit einem weiten Blick über das Loch
Tummle, einer dieser langen Seen, in denen Ungeheuer vorkommen sollen. Das Haus
steht mit wenigen anderen sehr einsam, es ist grau, wie auch das Steindach.
Hier ist kein Wald, nur wilde Heide, auf der Schafe und absonderliche Kühe
grasen und auch Hirsche und Schneehühner vorkommen sollen. Die Schafe und Kühe
werden von den jungen Leuten, auch von Kindern gehütet, und schon am nächsten
Tag gehe ich mit raus.
Von der Bushaltestelle müssen wir noch 2 Sunden durch diese
wilde Gegend bis zum Haus gehen, es ist sehr mühsam, auch weil der Weg sehr
steinig ist, und immer wieder stolpere und rutsche ich hin und reiße mir ein
Loch in einen Strumpf, und abends muß ich stopfen, und ich bin froh, daß mir meine Mutti noch als
Reiseübung das Stopfen beigebracht hatte, aber es ist richtig romantisch, mit
den anderen am brennenden Kaminfeuer zu sitzen und Strümpfe zu stopfen. Sehr
glücklich bin ich, hier zu sein. In dem Haus ist es kalt und feucht, und Frau
Agnew hatte schon bald in dem Kamin ein großes Feuer gemacht, das nun die
ganzen Ferien über brennt, mit Holz und mit Kohlen. Die stinken etwas, fast wie
der Dampfer. Neben den Wegen haben sie Steinwälle, hinter denen die Schafe
leben, mal eine Herde mit schwarzen Gesichtern, mal eine mit weißen Gesichtern.
Bild 5
Die schottischen Gebirgskühe und ein Hütejunge bei Regen, Sturm und Nebel, und es ist gerade recht kalt.
Und diese Kühe! Ich denke, die sind von einem anderen Stern:
ihr beiges Haar hängt ihnen über die Augen, sie haben wirklich sehr lange
Hörner, doch Angst hat man vor ihnen nicht, denn sie sind lieb und zahm und
klein.
Ab und zu kommt ein junger Schafhirte heran und begrüßt uns, und
diese Jungens tragen alle Kilte, schön bunt und auch unterschiedlich in den
Farben, und ich sehe sie schon von weitem an dem grellen Rot oder Blau oder
Grün. Sie rufen fröhlich herüber, „nice weather today,“ obwohl es gerade regnet
und ihre Gesichter und Beine glänzend naß sind und die Haare triefend im
Gesicht hängen. Ja regnet und stürmt, und dazu Nebel, und ich freue mich über
meinen dicken Mantel und über den dick-wollenen Kilt, der zwar um die Knie weht
und die frische Luft unten an den Leib lässt, aber er wird nie wirklich naß,
und das bißchen Nässe, das reingesaugt wird, trocknet sofort wieder. Die
Schäfer tragen gegen Regen und Wind eine dicke Wolljacke, manchmal recht kurz,
meine ich, und an den Beinen und Füßen nichts, die müssen ganz schön abgehärtet
sein.
Und dieses Haus: es ist nicht verputzt, auch innen nicht,
und ich komme mir vor wie in einer Höhle im Felsen, und der große Raum in der
Mitte ist recht dunkel, aber elektrisches Licht haben sie nicht, nur mal eine
Kerze oder eine Petroleumlampe, die stinkt, und das Fenster ist klein. Mit den
beiden anderen Jungen Jacky und Mike wohne ich in einer kleinen Kammer unter
dem Dach, und ein Rauchrohr vom Kamin her erwärmt es etwas. Zwischen die Steine
auf dem Dach haben sie Moos gestopft, das den Wind abhält.
Die beiden hatten sich schon vorher gewundert über meine
langen Strümpfe. Und wie ich mich ausziehe, wollen sie die Strumpfhalter sehen
und das Leibchen und alles, an dem sie festgeknöpft sind. Wir setzen uns
nebeneinander auf ein Bett, und ich ziehe meinen Kilt hoch, damit sie alles
sehen können. Sie finden diese Kleidung so eigenartig wie unsere Leute in
Hameln es eigenartig finden, daß Jungen Röcke tragen.
Am nächsten Tag holen sie sich ihre alten Kilte aus einer
Truhe, schon etwas verschlissen und etwas zu kurz, denn die Kilte von gestern
sind die Sonntags-Kilte, sage ich mal. Eigentlich sind es die Kilte in dem
Muster, das zum ganzen Regiment ihres Vaters gehört. Doch die hier holen sie
sich für die Ferien raus, in den Ferien nämlich tragen die Jungen und der Vater
ihre Familie-Agnew-Kilte, die blau und grün kariert sind mit roten Streifen,
ein wenig düster im Ausdruck. Nun ziehen sie auch diese bloomers nicht mehr an,
und ich mag sie auch nicht und komme wieder auf meine deutschen weißen
Unterhosen zurück. Doch nach zwei Tagen ziehe ich auch die nicht mehr an
sondern habe nichts mehr drunter, wie die anderen auch — und wie jener Soldat
auf dem Lastwagen. Und nun erst fühle ich mich richtig wohl in meinem
knielangen Kilt (eigentlich ist er etwas zu groß) und wohlig eingewickelt — wie
in eine warme Wolldecke — und schon ein wenig schottisch. Und sie gehen barfuß,
was für mich schwierig ist, denn alles ist so steinig, und meine Knie frieren
und ich behalte erstmal die dicken Wanderschuhe und die langen Strümpfe und ein
langes, warmes Unterhemd an, lang bis fast an die Knie — und meinen wollenen
Rollkragenpullover. So ist mir wirklich warm, auch an den beinah nackten
Schenkeln. Da sind also:
die Strümpfe, das
Leibchen, das fast bis zum Po reicht und an das ein oder zwei
Strumpfhalter
angeknöpft sind, das lange Unterhemd und der Kilt, und oben der
Rollkragenpullover und
eine dicke Wollmütze. Wenn es mir zu
windig ist, ziehe ich
den Mantel über alles.
Mama sagte während wir alles
ausrüsteten, „da haben wir Mädchen für euch Kilt boys doch gut vorgesorgt,
oder?“ Ja, es ist ein wenig Mädchenkleidung, auch der Kilt, und ich fühle mich
sehr wohl darin, etwas mädchenhaft, was ich mag.
Die Stimmung mit den Agnew-Kindern ist hier ganz anders als
in Hameln auf der Gaußstraße, wo sie wohnen. Sie stehen früh auf und stürmen
erstmal nach draußen, auch wenn es regnet. Später erst kommt das Frühstück.
Einige Tage später kommt eine Familie aus dem
südschottischen Flachland zu Besuch, aus den Lowlands. Und nun entdecke ich
etwas über Sprachen, denn unter einander sprechen die eine Sprache, die ist
nicht englisch sondern ähnelt eher dem Deutschen, und ich verstehe ab und zu
etwas, jedenfalls besser als englisch.
Bild 6
Der Schehallion-Berg und die Sommerhütte der Agnews.
Und dann erklären sie mir noch was über die alte schottische
Sprache, die sie gälisch nennen, aber nur noch wenige Leute können sie richtig
sprechen, sagen sie. Und, obwohl diese Leute aus den Lowlands sich auch als
Schotten verstehen, tragen sie keine Kilte. — Übrigens, wie verständige ich
mich eigentlich? Herr Agnew und seine Frau können einigermaßen deutsch
sprechen, und das reicht dann, doch ich versuche auch, mein Englisch zu
verbessern, was sehr viel bringt, wie Dr. Schnaar mir nach den Ferien
bestätigt, obwohl ihm meine neue (schottische) Aussprache nicht so gut gefällt.
Doch ich verstehe nicht, was er damit meint.
Hier aber begeistere ich mich immer mehr am Kilt. Er ist DAS
Kleidungsstück für mich. Er IST ein Rock, wenn auch die Schotten sagen, daß ein
Kilt kein Rock („a kilt is a kilt, never a skirt“) sei, aber ich glaube, das
sagen sie nur, um sich von den Frauen zu unterscheiden, sie haben etwas Scham
davor, sich wie eine Frau zu kleiden. Ich denke aber, das ist alles nur eine
Spielerei. Mein Kilt ist orange, und sie sagen er ist aus Ulster, was
eigentlich zu Irland gehört, also nicht schottisch ist. Dabei lerne ich, daß
der Kilt auch in Irland und sogar in Wales getragen wird, aber seltener als
hier.
Meiner ist sehr lebendig in seinem strahlenden Orange mit ein paar schwarzen und roten Karostrichen drauf. Ja, Irland und so: bevor ich losreiste, hat meine Mutter mir extra Erdkundeunterricht gegeben, wir sind die Karte von Groß Britannien durchgegangen, die unter einer Glasscheibe oben auf einer kleinen Truhe angebracht ist, sehr alt und sehr wertvoll, aber immer noch alles richtig, sagt sie.
Bild 7
So ungefähr sieht mein Kilt aus, ein berühmtes Gemälde von Milrais
Meiner ist sehr lebendig in seinem strahlenden Orange mit ein paar schwarzen und roten Karostrichen drauf. Ja, Irland und so: bevor ich losreiste, hat meine Mutter mir extra Erdkundeunterricht gegeben, wir sind die Karte von Groß Britannien durchgegangen, die unter einer Glasscheibe oben auf einer kleinen Truhe angebracht ist, sehr alt und sehr wertvoll, aber immer noch alles richtig, sagt sie.
Hier in Schottland tragen alle Jungen zur Schule kurze
Hosen, aber in den Ferien und bei Festen gilt für viele nur ihr Kilt, auch für
die Agnew-Jungen, und für den Vater natürlich auch. Ach ja, und in Hameln
tragen sie den Kilt, um sich von den deutschen Jungen zu unterscheiden,
allerdings in dem roten und weißen Tartan des Regiments. Auch jede Familie hat
ein eigenes Muster, alles Karo-Muster, Tartan genannt. Da ich keiner dieser
Familien angehöre, ist es egal, was ich trage, und wenn ich aussuchen könnte,
würde ich den Tartan dieses Landstriches hier wählen, er ist in strahlenden,
grünen und blauen Farben, mit noch einem dünnen, roten Strich drin, er wird
hier in der Gegend viel getragen, heißt Grampian wie eben diese Gegend — soweit
man überhaupt sagen kann, daß Kilte hier „viel“ getragen werden, eher selten,
eben fast nur auf Festen und in den Ferien, wenn sie auf dem Lande leben. Er
ist heller als der Tartan der Agnews, er strahlt sogar. Doch ich bekam ja
diesen Kilt mit den orangen Farbtönen, den ich an mir sehr mag, er steht mir,
denke ich, und ich mag gar nichts anderes mehr anziehen. Er passt auch zu den
erd-braunen Strümpfen und dem hellgrauen Pullover.
Mr. Agnew macht Fotos — auch schon auf dem Schiff —, und so
bekam ich einige Bilder, doch für diesen Bericht habe ich sechs Bilder neu
gezeichnet, weil ich gerne zeichne und weil ich Einzelheiten reinbringen oder
weglassen kann, anders als im Foto. Ihr seht, die Röcke und Kleider der Mädchen
sind länger als die Kilte der Jungen. Auch tragen sie meistens schwarze, lange
Strümpfe, die Jungen nie — mit meiner Ausnahme. Wenn es warm ist, lassen aber
alle die Strümpfe und Schuhe weg, nur nicht in der Schule oder wenn sie in die
Stadt fahren. Da gehört es sich, lange schwarze Strümpfe anzuziehen.
Bild 8
Zwei Mädchen und zwei Jungen vom Dorf, Mike zeigt uns
Zwei Mädchen und zwei Jungen vom Dorf, Mike zeigt uns
seine „bloomers“; ganz hinten stehe ich, ausnahmsweise mit nackten Beinen.
Einmal bekomme ich — zur Erinnerung sagen sie — ein
besonderes Buch geschenkt, Wee Gillis. Es erzählt mit hübschen Zeichnungen die
Geschichte eines Jungen, der sich entscheiden muß, ob er zu den Schotten im
Gebirge oder in den Lowlands gehören will, schließlich ist sein Weg, daß er
immer hin- und herwandert, beim Kilt bleibt und den Dudelsack für alle spielt,
als umherziehender Musiker.
Manches ist in dem Buch so gezeichnet wie ich es auch
gesehen habe. Zum Beispiel die Häuschen und die Schafsweiden und diese
niedlichen Kühe. Und zum Beispiel das Frühstück: eine Schale mit Hafergrütze
und Schafsmilch, und einmal habe ich mir eine Schale voll auf meinen Kilt
geschüttet, und ihr werdet euch wundern: nichts blieb auf dem Kilt zurück, denn
schnell sprang ich auf und schüttelte die Milchtropfen vom Stoff und . . . er
war sauber wie vorher. Diese Schafwollstoffe sind doch was Wunderbares — dafür
ist es auch viel Arbeit, die Schafe zu hüten, zu scheren, die Wolle zu
bearbeiten, zu färben, zu spinnen und am Ende die Stoffbahnen und den Kilt zu
machen. Alles wird zuhause oder in kleinen Werkstätten gemacht. Und deswegen
sind die Kilte so teuer.
Was ist denn eigentlich ein Kilt genau? Das ist ein
Wickelrock, der aus einer Stoffbahn von 6 m Länge besteht, wenn er für
Erwachsene ist, doch für Jungen ist die Bahn natürlich kürzer, Mädchen tragen
ja keine, sie tragen Röcke wie bei uns auch. Die Breite der Bahn ist so, daß
der fertig gewickelte Kilt eben oberhalb des Knies endet — es ist ein Stolz der
echten schottischen Männer und Jungen, daß die Knie für alle sichtbar sind,
vielleicht tragen sie deswegen keine langen Strümpfe, obwohl es im Winter doch
recht kalt sein muß. Ich habe hier ein Buch gesehen, das heißt „Red Legs”, von
einem Jungen, der so arm ist, daß er sich im Winter keine langen Hosen leisten
kann und dessen nackte Beine, die sich aus dem alten und schon zu kurzen Kilt
herausstrecken, immer rot vor Kälte sind, daher sein Name.
— Und ihre Knie betonen diese Schotten noch mit den wollenen
Kniestrümpfen, die auf den Waden zu einer dicken Wurst umgeschlagen werden. Bei
warmem Wetter ziehe ich meinen Kilt etwas hoch, damit meine Knie auch zu sehen
sind, denn eigentlich reicht er zu weit runter, und rolle meine langen Strümpfe
zusammen bis unter die Knie, das sieht dann schottischer aus.
Die Stoffbahn für den Kilt ist in der Mitte in viele Falten
gelegt, doch an den beiden Enden ist sie ohne Falten. Die Falten sind am oberen
Handbreit – meistens noch länger — festgenäht und der gefältelte Teil kommt
nach hinten. Dieser obere Rand ist mit einem breiten Stück Stoff umnäht und
sieht wie eine Art Binde aus, ohne Falten. Man beginnt mit dem Wickeln auf der
linken Hüfte, dann vorne, rechts und hinten herum wieder zur linken Hüfte,
weiter bis vor den Bauch bis die Bahn schließlich an der rechten Hüfte endet.
Dort ist der Kilt also offen, er ist nicht zugenäht wie Röcke sonst, also ein
Wickelrock.
Das alles bringt es mit sich, daß der fertig gewickelte Kilt
über dem Po von der einen zur anderen Hüfte aus lauter Falten besteht. Doch
vorne ist er platt. Der Kilt wird rechts durch zwei seitliche Schnallen und
rundherum durch einen Gürtel gehalten. Die Stoffbahn ist unten und an den
Seiten nicht gesäumt, und sie franst aus, was für Deutsche vielleicht
unordentlich aussieht. Doch mir kommt es vor, daß nicht nur der Rock sondern
auch der Stoff nach unten offen ist — und das gibt mir ein Gefühl, nach dem ich
mich sehne soweit ich mich erinnern kann: der Erde nahe, offen für die
Begegnung mit der Erde, so sage ich das heute.
Dort, wo der Gürtel ist, ist eine Art Trennung zwischen
unten und oben, und ob das seelisch so gesund ist, weiß ich noch imme nicht.
Später habe ich die Idee — und auch mal die Erfahrung —, daß dieses eine
Trennung zwischen meiner Bindung mit der Erde und meinem Denken und Wissen im
Kopf ist. Das Vollständigste wäre es, wenn beide ineinander übergingen, ohne
diese Trennung, ohne Gürtel, in einem langen Kleidungsstück. Und dazu wäre eine
Art Kleid mit Kapuze, also eine Mönchs-Kutte das beste. Doch das kann ich einem
Kind nicht empfehlen, das wäre zu viel Hinwendung auf solcherart Vorstellungen.
Und das Leben eines Kindes ist fröhlicher und lebendiger.
Wenn ich in einer Kutte — ich hatte nie eine — die Kapuze
über meinen Kopf ziehen würde, dann öffne ich mich der Erde und den tiefen
Gefühlen. Und ich öffne mich dem Himmel und dem Denken und Wissen, wenn ich sie
absetze. Das erste ist eher weiblich, das zweite eher männlich. Am Ende ist
beides in mir und ich liebe es, in beidem zu leben.
Bild 9
mein Kilt im irischen Ulster-Tartan.
Wegen der Hochland-Kälte trug ich meistens
meine Langen Strümpfe
und den Pullover
Weil der Kilt so viele Falten hat, kann er weit umherwehen wenn der Wind ihn hebt oder ich tanze. Das Umherwehen mag ich, dann kommt kühle Luft an meinen Körper und die anderen können sehen, was ich unter dem Kilt trage — wie das bei den Mädchen bei uns ja auch ist. Und meine Strumpfhalter werden manchmal auch sichtbar. Die Frauen mögen ja nicht gerne, wenn ihre Halter von den anderen gesehen werden, aber mir macht es Spaß — bin ja auch keine Frau . . .
— und wenn ich heute — nach Jahrzehnten — diese Fotos von
mir sehe, finde ich das sogar süß.
Auch sonst ist ein Kilt sehr bequem, weil es geräumig ist in
ihm. Fahrradfahren müsste auch gehen, doch das habe ich nie gesehen, doch bei
uns zuhause fahren Frauen und Mädchen ja auch im Rock Rad. Und wenn sie richtig
sein sollen, sind die Kilte bunt kariert, nach einem Tartan, das heißt nach
einem Muster, das zu einer Gruppe von Familien gehört, Clan genannt, oder auch
zu einer Landschaft — mein geliehener orange Kilt gehört ja zur Landschaft
Ulster, doch sonst habe ich mit dieser Landschaft nichts zu tun — oder er
gehört zu einem Soldaten-Regiment. Ach, das habe ich ja schon geschrieben.
Absonderlich ist auch, daß die Schotten nicht ein
Wappen-Tier haben wie wir den Adler, sondern eine Wappen-Pflanze, und dazu eine
recht stachelige: die stacheligste Distel, die ich mir denken kann. Überall
haben sie sie abgebildet. Und das soll so gekommen sein, hat Frau Agnew mir
erzählt:
Vor hunderten von Jahren haben mal Wikinger aus Norwegen
eine schottische Soldatenschar angegriffen. Es war Nacht und Neumond, und die
Schotten schliefen und die Wikinger dachten, so ist das Anschleichen am
einfachsten. Rund um das Lager wuchsen aber diese Disteln, und als die Wikinger
mit ihren nackten Füßen in das Distelfeld kamen, schrien sie vor Schmerz auf,
und der Angriff konnte abgeschlagen werden, und die Schotten verfolgten die
Wikinger bis zu ihren Schiffen, so daß die Wikinger erstmal das Land verlassen
mußten. Zum Dank wurde die Distel zur Wappen-Pflanze erkoren.
Von einem dumpfen Knall wache ich auf, schade, dieser schöne
Traum ist so plötzlich zuende. Was war das denn, dieser Knall? Neben mir liegt
ein Buch und meine Mutti steht da und schreit „aua, ich habe mich gestoßen“.
Und sie lacht dann und sagt, „sieh mal, was ich für dich erstanden habe, ein
altes Buch, wo du doch so für Schottland schwärmst“.
Schnell setze ich mich hin und nehme das Buch in die Hand:
es ist das Buch, das die Agnews mir im Traum geschenkt haben, wie ist das
möglich?
„Wee Gillis“ von Munro Leaf und Robert Lawson. Es ist nach
so vielen Jahrzehnten noch immer bei mir, und wenn ihr da mal reinschaut, könnt
ihr die Lowlander und die Highlander sehen, wie sie leben, lebten in alter
Zeit, ich weiß nicht, ob es noch heute so ist, heute im Jahre 2005. — Die
schottischen Soldaten haben Hameln nach etwa zwei Jahren wieder verlassen.
Später habe ich Schottland nur einmal kurz besucht und niemanden getroffen, die
oder den ich kannte — wie sollte auch, da alles nur ein Traum war. Doch auf
dieser Reise 1978 habe ich ein paar Fotos gemacht, und einiges in diesem Traum
habe ich dort wirklich gesehen. Doch meine Träume über Schottland kommen von
meiner uralten Vorliebe für Kilte und für farbige Kleidung. Und heute trage ich
nur Röcke, viele mit schottischen Tartans, doch da meine Beine wegen einer
alten Krankheit Bedeckung brauchen, reichen meine Röcke alle bis in die Mitte
der Waden oder tiefer, und die Sitte mit den langen Strümpfen habe ich deswegen
auch beibehalten, im Winter bunte aus Wolle, selbst gestrickt.
Dann nähte mir eine Freundin, Carry heißt sie, vollendete
Röcke, die eine gewisse Ähnlichkeit mit echten Kilts haben — danke Dir! Dazu
kaufe ich mir echte Tartans, unter anderem Buchanan, Flower of Scotland, Dawn
(IR) …
Im September 2007 traf ich einen schottisch-deutschen
Jungen, Samuel, der sah sofort, daß der Rock, den ich gerade trug, vom Tartan
Buchanan ist, aber er sprach das Bjukännen aus, und sein Vater (und damit Samu
auch) sei aus diesem Clan – das fand ich sehr schön, danke Samu. Nun ist die
Familie nach Thüringen gezogen.
Im Jahre 1845 wurde von James Logan ein Buch veröffentlicht
mir vielen bunten Bildern von Schotten im Kilt in Clan-Tartans, die Robert
Ronald McIan entworfen hatte. Es heißt „The Clans of the Scottish Highlands“.
Ihr könnt die einzelnen Bilder sehen in der Internet-Seite
http://www.the-clann.co.uk/book/additions/mcian.htm . 100 Jahre später, 1948,
gab es nochmal eine kürzere Fassung einiger Bilder aus diesem Buch in „Highland
Dress“ von George F. Collie. Er beschreibt auch die Geschichte des zuerst
genannten Buches. Unter http://www.the-clann.co.uk/book/highland_dress.htm
könnt ihr mehr lesen. Dieses Buch habe ich, das von 1848 ist mir aber zu teuer,
obwohl ich hoffe, daß es mal wieder nachgedruckt wird — heute, wie es wieder
ein wenig in Mode kommt, daß Männer Röcke tragen, und viele von den heutigen
Rockträgern tragen Kilte, andere Männer aber tragen andere Arten von Röcken mit
schottischen oder irischen Tartans oder anderen Mustern, seht mal in die
Internetseite www.rockmode.de und von dort weitere Links.
So, und nun werde ich anfangen, die Bilder zu meinem Bericht
— erträumt oder echt — zu zeichnen, sie sind — außer dem Brückenbild — lange
ersehnt, schon immer, seit meiner frühen Kindheit in den 1930er Jahren in
Hameln. Das erste Bild mag es aber gewesen sein, das ich mit etwa 10 gesehen
habe, und das den Anlass zu der ganzen Hinwendung meiner Fantasien gab.
Vieles habe ich in den schottischen Bergen erlebt. Besonders
mit Jacky, den älteren Sohn der Agnews. Nach ein paar Tagen merkten Jacky und
ich, daß wir uns liebten — so schlicht wie halbwüchsige Knaben sich eben lieben
können. Das gab manche schöne Erlebnisse, und für mich war es der Beginn meiner
Liebeskraft überhaupt.
Da erinnere ich mich an eine Tageswanderung zum
Shehallion-Berg, erst mit einem besegelten Ruderboot über das Loch Tummel, dann
zwei oder drei Stunden den Berghang hinauf. Mit vielen Pausen — Jacky ist einen
Kopf länger, obwohl wir gleichalt sind. Einmal umfasste er mit seinen Händen mein Gesicht, „du bist
so schön, ich muß deine — Wangen küssen, darf ich?“ — und bald küssten wir
einander auf ganz süße Weise. — auch die Lippen, die Augen . . . es war sehr schön, wunderbar . . . ich konnte mich hingeben . . .
Wie wir weiter stiegen, fragte Jacky, ob er meine Strümpfe fühlen
dürfte, die Knie in den Strümpfen, und ich hob den Kilt etwas und zeigte sie
ihm, und Jacky streichelte die Beine in den Strümpfen — was mir sehr genüßlich
war.
Jacky strich die Beine immer höher, bis er den Rand des
Strumpfes erreichte und meine nackte Haut berührte. Das war mir sehr wohl,
seine kühle Hand . . . und er sagte, „du bist wirklich ein sehr
schöner Knabe! Wie schön, daß du auch wie wir einen Kilt angezogen hast.“
Wir legten uns in die Kräuter und wälzten uns miteinander
und küssten uns wieder. Und wir schlangen unsere Arme einander um Hälse und Köpfe. Wie gesagt, es war ein steiler Hang, Wiese, Gras, Kräuter. Wir küssten uns voller Inbrunst und merkten kaum, daß wir etwas runterutschten, mit den umschlungenen Köpfen zuunterst, in ein verdeckendes Blättergebüsch. Unsere Kilts flatterten im Gras, und unsere Beine waren entblößt — außer meine dicken Stiefel und die dunklen Strümpfe, die meine Beine bedeckten. Alles war bloß, merkten wir erst nachher — und zurück im Agnew-Haus zog ich mir wieder meine Unterhose drunter, es war mir zu nackt gewesen da oben am Hang. Wie gut, daß niemand vorbei kam.
Dann liefen wir juchzend den Hang wieder runter zur Bootslände, wo eine Familie angekommen war, die Mutter sprach deutsch. Unsere Kilts wehten. Das älteste Kind, ein Mädchen war in unserem Alter und trug ein hell-grünes Kleid. Die Mutter zeigte auf die Beine des Mädchens und sagte, „Irene trägt auch lange Strümpfe. Weißt du, was das bedeutet?“
Bild 10
ich küsse mich mit Jacky im Gebüsch,
unsere Kilts sind sehr verrutscht,
weiß leuchten unsere Unterhemden hervor.
Wir haben — zögernd und leise — unser Erleben
den Agnews erzählt, und der Maler, der gerade
zu Besuch war, hat dieses Bild gemalt.
Schlichte Knabenliebe ohne Scham
1946: a German boy visits Scotland and falls in love
with Jacky — here they kiss hidden under a shrub.
The German boy wears long stockings as it was then
usual in Germany in cold season — Jacky not.
Simple boy love without shyness
weiß leuchten unsere Unterhemden hervor.
Wir haben — zögernd und leise — unser Erleben
den Agnews erzählt, und der Maler, der gerade
zu Besuch war, hat dieses Bild gemalt.
Schlichte Knabenliebe ohne Scham
1946: a German boy visits Scotland and falls in love
with Jacky — here they kiss hidden under a shrub.
The German boy wears long stockings as it was then
usual in Germany in cold season — Jacky not.
Simple boy love without shyness
Dann liefen wir juchzend den Hang wieder runter zur Bootslände, wo eine Familie angekommen war, die Mutter sprach deutsch. Unsere Kilts wehten. Das älteste Kind, ein Mädchen war in unserem Alter und trug ein hell-grünes Kleid. Die Mutter zeigte auf die Beine des Mädchens und sagte, „Irene trägt auch lange Strümpfe. Weißt du, was das bedeutet?“
„Vor zwei Jahren ging es ihr schlecht, sie fühlte sich so
unsicher in ihrem Leben, auf dieser Welt, besonders hier im Ausland, pinkelte
nachts ins Bett und weinte viel. Und in der Schule mochte sie nie sein. Im
Sommer war das schlimmer, im Winter ging es ihr besser. Da riet uns der
Kinderarzt, ihr lange Strümpfe zu geben, auch im Sommer, vielleicht dünne, aber
beige oder braun, wie die Erde. Nicht lange Hosen, nicht nackte Beine.“
„Und magst du deine Stümpfe?“ fragte ich, „ja, sehr, das ist
ein gutes Gefühl, möchte ich sogar im Bett anbehalten,“ sagte Irene. „Wie
befestigst du sie?“ „natürlich mit Strumpfhaltern, was sonst. Und die habe ich
am Strumpfhaltergürtel.“ — Ich merke, mit meinem Leibchen bin ich etwas
kindhafter angezogen. — „Ich fühle mich sicherer, ruhiger . . .“ Irenes Strümpfe waren ziemlich dunkel
braun, wie die Moorerde hier.
Für mich entdecke ich, daß es mir ähnlich geht, meine Mutter
wusste wohl von all diesen Dingen, als sie mir vor langer Zeit die Strümpfe
anzog. Meine jüngeren Geschwister ziehen viel seltener welche an, vielleicht fühlen
sie sich sicherer.
Wie Jacky und ich mit dem Boot wieder über das Loch Tummel ruderten,
fühlte ich mich wohler — doch gegen die Unsicherheit der Wassertiefe (sind da
Ungeheuer?) unter mir halfen die Strümpfe nicht, es muß schon Erde sein, oder
Fels, große Felsbrocken. Jetzt verstehe ich endlich, was Mama ab und zu sagt,
„du mußt schon richtig ja sagen zu deinen Strümpfen.“
Ein paar Tage später fuhr Frau Agnew mit uns Kindern in ein
Nachbarstädtchen, mit dem sehr eigenartigen Namen Pitlochry. Sie wollte mir
eine Weberei zeigen, wo die bunten Stoffe für die Kilts gemacht wurden. Die
hatten auch einen Laden für dergleichen, schöne Stoffe, auch wollige Decken,
sogenannte Plaids. Dann sah ich dort auch Schals und Strümpfe hängen, wohl für
Mädchen, denn Jungs ziehen hier keine langen Strümpfe an, gehen lieber mit
nackten Knien — oder manchmal sehr kleine Jungen, schwarze unterm Kilt. Die
meisten Strümpfe im Laden waren bunt kariert, aber auch braune wie ich sie
habe. Frau Agnew wollte mir welche anprobieren und kaufen. Das war mir hier im
Laden etwas peinlich, meinen Kilt hochziehen und einen Strumpf vom
Strumpfhalter lösen und ausziehen und einen anderen anziehen, doch ich tat es,
im Stehen, und bekam ein neues Paar, auch braun, wie ich es wollte, ziemlich wollig
— keine bunt karierten.
Das also war das Thema mit den Strümpfen an meinen Beinen. Die
Kilte oder Knaben-Röcke war ein anderes, ein wenig auch das kindliche Erwachen
der Liebesgefühle — angeregt durch diese offene Kleidung und einen anderen
Jungen, Jacky. Wieso kam die Lust an den Kilts oder auch Mädchenröcken zu mir, als ich
etwa 8 war. Das Bild in ATLANTIS kann es nicht allein gewesen sein. Das war
einerseits die anerzogene Scheu, nur nie wie ein Mädchen auszusehen, also nie
Mädchensachen tragen. Aber ich hatte auch den Reiz, gerade dieses Gebot zu
hintergehen, nun gerade Mädchenkleidung anzuziehen. Doch da war mehr:
Mädchenröcke haben etwas Freies an sich, der Wind weht unter den Rock und reizt
die Lust des Körpers. Hosen engen die Körperfreiheit ein. Ein Kilt, also ein
„Mädchenrock“ für mich als Knabe —
erlaubt in manchen Kulturen (später merkte ich, daß bis in die 1960er
Jahre mindestens ein Drittel der Knaben und Männer auf der Erde Röcke trug,
erst dann kam der schnelle Übergang zu langen Hosen, zu Jeans) — half mir,
meine erotischen Gefühle zu erkennen und zu erleben. Diese Kleidung gehörte zu
meinem inneren Ausdruck meiner Sensibilität, ich bin der, der sich hier so
darstellt.
So erkannte ich, der Kilt wurde zu einem Mittel, mich
selbst zu erkennen. Und ich bin froh, daß ich dieses Angebot meiner Seele so
früh in mein Knabenleben übernahm.
Einige alte und neue Bilder aus dem Internet: Kilt mit langen Strümpfen.
von Aryaman Stefan Wellershaus
Ma.Aryafrau@gmx.de
Eingestellt von Aryaman, Dr. Stefan Wellershaus am 20.xii.2013
Labels: ein Hamelner Junge in Schottland 1946
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